Das Gute Rezept

Aus der Sammlung der Erzählungen des Wiener Heimatdichters J. Vinzenz unter dem Titel: „Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt“
1956

Beim Milchmeier Plutzerkern diente die alte Petronella schon an die fünfzig Jahre und war daher ein Machtfaktor im Hause. Herr, Frau, Knecht und Dirn standen unter ihrer Fuchtel. Wenn der Hahn zum ersten Mal krähte, stand die Petronella auf und rumorte hierauf so nachdrücklich in der Küche, dass es die anderen im Bette auch nicht mehr länger aushielten. Spät abends suchte sie dann ihre Lagerstätte auf. Dabei war die Alte stets gesund und hatte ihr Leben lang noch nie mit einem Arzt zu tun gehabt.

Bis dann ein Morgen kam, an dem der Hahn für Petronella umsonst krähte. Sie erhob sich nicht vom Lager, atmete schwer, starrte teilnahmslos vor sich hin, und es hatte den Anschein, als könnte ihr die ganze Hauswirtschaft gestohlen werden. Auf die besorgten Fragen des Hausvaters brummte sie unwillig. Die Dirn ließ die Milch anbrennen, der Knecht zerschlug unge­schickterweise einen Topf – Petronella ließ dies alles teilnahms­los geschehen.

Worauf der Plutzerkern merkte, dass die Alte sehr krank sein musste.

"Der Hans soll den Bader holen", sagte er.

"Nix wird gholt! Wird ohne Bader a guat werdn ...", knurrte die Petronella.

Frau von Mayer, die im Hause als Sommerpartei wohnte, vermisste die Petronella und erfuhr, dass diese krank sei, vom Bader aber nichts wissen wolle. Nun wollte es der Zufall, dass der Sohn der gnädigen Frau am Tag zuvor Doktor der Medizin geworden war und bei der Mama auf Besuch weilte.

"Petronella", sagte der Plutzerkern, "d gnä Frau schickt ihrn Herrn Sohn, was a Dokta is, der wird dich untersuachn!"

"Wanns nix net kost, von mir aus", brummte die Alte.

Also kam der junge Doktor zur alten Petronella. Er war liebenswürdig wie ein Doktor, der noch keine Praxis hat, und als er ans Bett herantrat, beäugte ihn die Alte höchst misstrauisch. Nach gründlicher Untersuchung seines ersten Pa­tienten zog der Herr Doktor einen ganz neuen Schreibeblock aus der Tasche und schrieb hierauf sein erstes Rezept, legte es auf die Bettdecke und sprach:

"Liebe Petronella, wenn Sie das, was ich verschrieben, nehmen, werden Sie in einigen Tagen gesund sein."

Und der neue Doktor verließ wohlwollend nickend und völlig honorarlos die Stube.

Der junge Herr Doktor war wieder in die Stadt gefahren, um dort auf ertragreichere Patienten zu warten. Seine Mama erkundigte sich nach einigen Tagen nach dem Befinden der Alten.

Der Plutzerkern wies mit dem Daumen über die Schulter nach der Küche, aus der ein ganz erhebliches Gezeter kam.

"Hörn S es, gnä Frau", lächelte er heiter, "die Alte is wieder gsund und der Teixl is los mit dö Deanstbotn. Gott sei Dank, weil ma nur wieder a Urdnung im Haus habn."

"Also war die Diagnose von meinem Sohn richtig, und das Rezept hat seine Wirkung getan", sprach Frau von Mayer voll Mutterstolz und entfernte sich in gehobener Stimmung.

Zur Heuernte kam der junge Herr Doktor wieder auf Besuch. Auf einem Abendspaziergang kamen beide an einer Wiese vor­bei, wo Heu geladen wurde. Dies geschah unter ganz bedeuten­dem Geschrei eines alten Weibleins. Sie reichte dem Knecht auf den Wagen mit einer langen Gabel die Heuhaufen und keifte dabei fortwährend, weil ihr die Geschichte zu langsam ging.

"Ist das nicht die alte Petronella?" fragte der junge Herr Doktor.

"Ja, die du so rasch von ihrer schweren Krankheit kuriert hast!" sprach stolz die Mutter.

"Grüß Gott, liebe Petronella!" rief der Herr Doktor. "Also, wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wieder beisammen! Das Rezept war also gut und hat Sie gesund gemacht. Nicht?"

"Wohl, wohl, Herr Dokta!" kreischte die Alte, "koane zwoa Tag han is aufglegt ghabt, und gsund bin i gwesen. Seit der Zeit trag is Rezept allweil bei mir. Auf da Brust trag is. Ma kann jo do net wissn, ob de Krankat net no oamal zruck-kemma möcht."

Der Herr Doktor war stehen geblieben und blickte etwas geistesabwesend drein. "Was sagen Sie, Petronella? Sie haben das Rezept nicht in die Apotheke getragen und daher keine Medizin bekommen? Sie tragen es bei sich?"

"Jo, jo, Herr Dokta, warten S a bisserl, i kanns Ihna jo glei zoagn. . . a jo, a guats, a wunderbars Rezept", kiefelte die Petronella, legte die Reichgabel beiseite, drehte sich dann geschämig um und brachte aus dem Hemd ein verschwitztes Stück Papier hervor, das sie dem Herrn Doktor reichte.

"A guate Sach, Herr Dokta! A guats Rezept! Glei hats gholfn..."

Quellen:
Urheberrecht für "Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt": Bezirksmuseum Hietzing, 1130 Wien, Am Platz 2

Vinzenz Jerabek