Das Weihnachtskraut

Die vielleicht schönste Weihnachtsgeschichte des Ober St. Veiter Heimatdichters Vinzenz Jerabek aus dem Jahr 1885

Wenn ich einen Vergleich ziehe zwischen den Weihnachten meiner Kindheit und den Weihnachten der heutigen Jugend, wird mir klar, wie glücklich ich doch gewesen bin, trotzdem wir sehr arme Leute waren. Welch ein Unterschied zwischen der Armut von damals und dem grinsenden Elend von heute! Nie mangelte mir das tägliche Brot, oft genug gab es noch Butter darauf und nie fror ich in einer dunklen ungeheizten Stube. Wieviele Kinder von heute können das von sich sagen?

Doch ich will keine Vergleiche anstellen, sondern ein Weihnachtserlebnis aus der Jugendzeit erzählen. Meine Mutter, eine Witwe, ging ‚ins Nähen‘. Ich aber führte die Hauswirtschaft. Darüber braucht niemand zu lachen. Wenn ich auch erst zehn Jahre alt war, ich konnte doch schon die Stube aufräumen, ‚Bettmachen‘, Kaffeekochen und noch vielerlei andere häusliche Arbeiten, die von Rechts wegen dem weiblichen Geschlecht zugehörig sind. Die Mutter ging in der Frühe fort und kam erst spät abends heim. Meine persönliche Freiheit war eine uneingeschränkte, und wenn die Schulstunden vorbei waren, dann ging es hinaus. Sommers in den grünen Wald, im Winter aber auf die verschneiten Wiesenhänge oder an den zugefrorenen Bach. Ich freute mich des Lebens, war stets froh und zufrieden und neidete meinen besser gestellten Kameraden das Ihre nicht.

Es war wieder einmal der Tag des Heiligen Abends da. Die Mutter musste auch heute ihrer Beschäftigung nachgehen und sprach vor ihrem Weggang zu mir: „In der Tischlad liegt das Brot und aufm Herd steht ein Kraut. Tu es dir für Mittag wärmen.“

Ich hatte ein feiertagsmäßiges Großreinemachen in unserer Wohnung vorgenommen, und als ich um die Mittagszeit damit fertig war, ergriff ich die ‚Bitschn‘, um Milch zu holen. Im Hofe begegnete mir unsere Hausfrau. Sie rief mich in ihre Küche, gab mir eine ‚Rein‘ und sagte: „Da hast a guats Kraut. Tu dirs wärmen. Wär ewig schad, wanns hin wurdert.“

Ich nahm das Kraut und trug es in unsere Küche. Hierauf machte ich mich wieder auf den Weg. Drei Häuser von dem unsrigen entfernt stand das Häuschen ‚der Fräuln Theres‘. Das war eine ältliche Jungfrau, zu der ich Beziehungen hatte. Nämlich im Sommer begoss ich die Blumen ihres Gartens, ich führte ihren schon etwas asthmatischen Bello spazieren oder in die Schwemme und machte mich anderweitig in ihrer Wirtschaft nützlich. Diese ehrsame Jungfrau erspähte mich von ihrem Fenster aus, winkte mir und hub also zu reden an: „Du hast heut gwiss nix rechts zum Essn. I hab da ein gutes Kraut, das kannst dir wärmen. über die Feiertäg kann mans nicht aufhebn, und es wär schad, wenn es zgrund gehn würde.“

Damit gab sie einen umfangreichen irdenen Topf in meine Hände. Ich nahm das Kraut und trug es zu dem anderen in unsere Küche. Und nun lief ich zur Milchfrau. Beim Pfarrhofe war ‚eine Schleifn‘. Ich sah sie nicht, glitt auf dem Eise aus und machte einen Purzelbaum in den Schnee. Meine ‚Millibitschn‘ aber flog an das Tor des Pfarrhauses, und dies mit einem ganz erheblichen Lärm. Im nächsten Augenblick öffnete sich ein Fenster, und die Pfarrersköchin wurde sichtbar.

„O mei, du arms Kind“, sprach sie mitleidig, „hast dir gwiss recht weh getan!“ Ich verneinte lachend und wollte davoneilen. Sie aber frug weiter:

„Sag, bist du nicht der Bub von der Weißnäherin? Gelt ja! Du, wart ein wenig, ich geb dir was.“ Und damit ging sie vom Fenster weg, kam aber gleich wieder und reichte mir einen grünglasierten Topf heraus.

„Schau, Bub“, meinte sie, „da hätt ich ein gutes Kraut. Wär ewig schade, wenn es nicht gegessen würde. Geh, trag es nach Haus und tu dirs wärmen.“

Sie nickte mir noch freundlich lächelnd zu und schloss das Fenster. Ich aber trug das Kraut heim zu dem anderen. Jetzt aber machte ich mich mit aller Vorsicht auf den Weg. Ich hatte so eine Ahnung, als müsste noch irgendwo ein Krauttopf meiner warten. Daher vermied ich den geraden Weg und ging ‚hintaus‘, das heißt, ich überkletterte unseren Gartenzaun, überschritt einige fremde Grundstücke, machte einen großen Bogen um die halbe Ortschaft und kam auf diese Weise unangefochten ans Ziel. Die Milchfrau maß mir die bestimmte Menge Milch zu und ich trollte mich. Als ich schon auf der Gasse war, rief sie mir nach – „Bua, kimm eina! Bald hätt i vergessn! Da hast a Kastrol (Kasserolle) mit an Kraut. Über d Feita (Feiertage) lasst sa si nöt aufhebn und wanns hin wurdert, war a Sünd. Tua dirs daham wärmen.“

Mir wurde angst vor so viel Kraut. Es zurückweisen, wäre bei dem Temperament unserer Milchfrau gleichbedeutend mit einer Tracht Prügel gewesen. Also trug ich es nach Hause. Ein heimliches Grauen erfasste mich, als ich das viele Sauerkraut betrachtete. Und trotzdem ich seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, empfand ich keinen Hunger. So nahm ich denn ein Stück Brot und lief hinaus zum Teich, um mich dort dem Vergnügen des ‚Schleifens‘ hinzugeben. Als ich zum heiligen Johannes kam, über dem vier alte Kastanienbäume ihre kahlen Äste ineinander verstrickten, da stand neben dem Heiligen ein altes Weiblein im Schnee. Es war die Thomasin, so benannt nach ihrem Manne, dem Zimmermann Thomas. Die Alte, die sich dadurch durchs Leben schlug, dass sie für gesunde Leute in die Lotterie ging, für Kranke aber Wallfahrten zu deren Gesundung unternahm, nebstbei ein bisschen bettelte und ein bisschen Ehrabschneiderei betrieb, stampfte, wie es mir deuchte, ärgerlich im Schnee, und ich hörte sie sprechen.

„Ah, da schau her! So Leut! So feine Leut! Für eahna tuan s bratn und bachn und unseran gabertn s eahna alts Kraut! Sunst gar nix!“

Ich hatte kaum das Wort Kraut vernommen, da wollte ich mich drücken. Es war zu spät. Die Alte hatte mich schon erblickt und schrillte mit ihrer scharfen Stimme:

„He, du Buaberl, kimm her da! Du kimmst ma grad wie gwunschn. Gel, du ghörst ja der Weißnahderin? So, du armer Hascher, da hast an Tala (Teller) voll Kraut. Buaberl, das is gar a feins Kraut. Is von der Frau Burgermasterin, is a feins, fetts Kraut. Tua dirs hoamtragen und mach dirs warm. Sünd und schad war, wanns hin wurdert. I selber kanns nit essen, mei Magn vertragt nix Sauers.“

Ich dachte an das viele Kraut, das ich schon zu Hause hatte, und sagte zur Thomasin, sie möge das ihre jemand anderen geben. Da kam ich schön an.

„Was, du Hundsknochen“, zeterte sie, „du Rabnfleisch, du Höllnbrand, du verredst dö Gottesgab, s guate fette Kraut von der Frau Burgermasterin willst nöt nehma, du Malefizhallunk, du spottschlechter! Glei niminst den Tala und tragst n ham. Wart, wann i mit deiner Muatta zsainmkimm, bei derer wer i dir a Bildl einlegn!“

Ich bekam Angst vor der erbosten Alten. Also nahm ich gottergeben auch dieses Kraut auf mich, trug es heim und gesellte es dein anderen bei.

Endlich war es mir gelungen, ungesehen zum Teich zu kommen. Dort tummelte ich mich auf dem Eis, bis es dunkel wurde. Im Tageslicht wollte ich mich auf der Gasse nicht mehr sehen lassen, ich hatte das unheimliche Gefühl, als wäre der Krautsegen noch nicht zu Ende.

Abends kam die Mutter heim. Sie trug ein zufriedenes Aussehen zur Schau und einen großen Korb am Arm. Als sie in den Korb hineinlangte und einen Topf voll Kraut zum Vorschein brachte, begann ich unbändig zu lachen, führte die Mutter in die Küche und zeigte ihr dort das viele Kraut, dessen ich heute teilhaftig geworden.

„Na, in Gotts Nam“, sprach sie, „zgrund gehn werdn mir nit. Da habn mir Kraut bis nachn neuen Jahr. Doch, heut wollen wir nicht damit anfangen. Komm, wir haben was Besseres.“

Und sie begann den Korb auszuräumen, brachte allerlei gute Dinge zum Vorschein, und wir zwei feierten stille und fröhliche Weihnachten.

Am anderen Tage stellte ich den Spendern ihre Töpfe und Reindeln zurück. Da bekam ich von der Hausfrau ein „Kletznbrot“, von der Fräuln Theres einen Strudel, von der Milchfrau einen Striezel und von der Pfarrersköchin einen feinen Gugelhupf. Von der alten Thomasin aber bekam ich noch einige ehrenrührige Äußerungen an den Kopf geworfen. Ich machte mir jedoch nicht viel daraus. Waren doch Weihnachten und ich so glücklich.

Ja, es war eine schöne Zeit, damals, als wir noch so arm waren . . .

Quellen:
Jerabek, Vinzenz: Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt. Wien: Eigenverlag 1956

Übertragen von hojos
im Dezember 2012