Auf dem großen See

Nacherzählung einer Weihnachtsgeschichte von Heinrich Seidel
20.12.2020

Es hatte vierzehn Tage lang gefroren wie in Sibirien. Auf dem höchsten Berg im Lande sass der alte Wintergreis in seinem bläulichen Gewand. Vor Vergnügen rieb er sich die Hände und aus diesen stäubte der feine schimmernde Schnee wie Zuckerpulver über die Erde. Dann wieder lachte er still vor sich hin und es gab Sonnenschein mit klirrendem Frost.

Das bevorstehende Weihnachtsfest führte Eduard – wie jedes Jahr – in das Haus seiner Eltern. Kaum war er dort angekommen, stürmte sein jüngerer Bruder Hermann herbei. Gleich nach der hastigen Begrüßung platzte es aus ihm heraus: „Du, die Eislöcher auf dem großen See wimmeln von nordischen Enten, die hier überwintern, und am Schlossgartenbach habe ich wieder Eisvögel beobachtet.“

Polly, der braungefleckte Wachtelhund, ein außerordentlich gebildetes Tier und Zögling Hermanns, sprang in ausgelassener Wiedererkennungsfreude an Eduard empor. Dann kam auch Murr, der weiße, gelbgestreifte Kater herangeschlichen, reserviert wie Katzen sind, und rieb sich schnurrend an Eduards Knie. Auch ihm wurde erstaunliches nachgesagt. Des Abends saß Murr meist würdevoll und mit um die Vorderfüße geringeltem Schwanz auf der Sofalehne und blickte die Sprechenden aufmerksam an. Wenn dann Geheimnisse zur Sprache kamen, mahnte die Mutter: „Sprecht doch leise, der Kater versteht ja alles!“

Und da erschien der Vater der Familie in der Tür. Er wusste noch gar nicht, dass Eduard gekommen war. Er trug einen in Papier gehüllten Gegenstand in der Hand. Aber statt Eduard zu begrüßen lief er voll Entsetzen wieder hinaus. Gleich darauf kam er ohne das Paket und mit vergnügtem Lächeln wieder zurück. „Feine Schlittschuhbahn,“ lautete sein Bericht, „wir sind gestern schon nach Nusswerder gelaufen, der große See ist ganz zugefroren.“

Nach der Begrüßung spazierte Eduard durch das ganze Haus, wo aus allen Ecken die Erinnerung lächelte, zuletzt durch den Garten und schließlich den Weg hinunter zum See. Dessen schimmernde Eisdecke verlor sich bald im Grau des Himmels. Und wirklich, wie Vater es sagte, hier hat es gar nicht geschneit, und es gab eine Schlittschuhbahn, wie sie der See nur ganz selten bot.

Dann kam der Weihnachtsabend und mit ihm die gute Tante Amalie mit ihrer Adoptivtochter Helene. Die Tante grüßte aber nur ganz kurz und verschwand samt Mutter und Vater im Wohnzimmer.

Zurück blieben die Kinder – Hermann, Helene und Eduard – denn trotz fortgeschrittenen Alters waren sie noch immer nicht berechtigt, an den Weihnachtsvorbereitungen teilzunehmen. Tante Amalie bestand darauf, dass Helene als Cousine der beiden Buben bezeichnet wurde und war auch von einem bestehenden Verwandtschaftsverhältnis überzeugt. Auf Nachfrage dauerte es an die zehn Minuten, dieses Verwandtschaftsverhältnis zu erklären. Eduard hat es nie begriffen. Eduard unterhielt mit Helene eine Dauerfehde, meist mit Inhalten und Texten aus den Kinderzeiten.

„Schenkst du mir denn etwas, Helenchen, mein Schwänchen?“

„Ich schenke dir ein Tränchen, und Tante was für deine langen Benchen.“

Das Klavier war wie immer geöffnet. „Singen wir etwas?“ bat Hermann.

„Aber was denn?“

„Unser Weihnachtslied: „Morgen, Kinder, wird's was geben, morgen werden wir uns freu’n.“

Und schon wurde es gesungen, das alte Lied, das eigentlich gar nicht mehr passte, da dieses „Morgen“ ja schon heute war. Dann sang Helene mit ihrer klaren Stimme: „O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit ...“ und dann … tönte die Glocke, und der Moment, der die Kinder mit diesem süßen Schauer erfüllt, war da.

Der Christbaum, mit Silber- und Goldketten, Netzen und Sternen und mancher verlockenden Frucht behangen, strahlte und duftete ihnen entgegen, und wie immer gab sein Glanz und heller Schein die Gewissheit: „Jetzt ist Weihnachten!“

Neuerlich wurde gesungen und dann wurden die Kerzen ausgeblasen. Jeder suchte den Ort, wo ihm die Liebe etwas aufgebaut hatte. Selbst Polly und Murr wurden nie vergessen. Das Paket, welches der Vater vorhin so schnell verbarg, gab sich als gesägte Holzarbeit zu erkennen, die in Gestalt eines luftigen Häuschens Eduards Taschenuhr zum nächtlichen Wohnplatz dienen sollte. Diesen Industriezweig hatte er auch auf alle anderen ausgedehnt. Tante Amalie meinte: „Du hast uns wohl alle besägt.“

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und eine Stimme ließ sich vernehmen: „Julklapp!“ Ein in Papier gewickelter Gegenstand fiel in’s Zimmer. Es war an Eduard adressiert.

Julklapp ist das schwedische Wort für Weihnachtsgeschenk. Hier gemeint war aber der spezielle Brauch des Verteilens kleiner, zum Spaß oft mehrfach verpackter Geschenke, deren Zuordnung ausgelost wird. In Deutschland heißt das auch Wichteln, in Österreich Engerl und Bengerl.

Viel Papier flog hastig abgerissen zu Boden und Helene machte sich durch eine schlecht verhehlte Spannung verdächtig. Endlich kam ein zierlich in Perlen gesticktes Hausschlüsselfutteral zum Vorschein.

„Von dir, Helene?“

„Nur aus Bosheit,“ war die Antwort, „weil ich weiß, dass du gestickte Sachen verabscheust.“

„Papperlapapp“ sagte Tante Amalie, „das war eine sehr mühsame Arbeit, Helene hat drei Wochen daran gearbeitet.“

Wieder ging die Tür auf: „Julklapp!“ Eine Kiste wurde hereingeschoben mit der Adresse: an Helene. Diese sah Eduard voller Verdacht von der Seite an. „Darin ist gewiss eine große Schändlichkeit von dir,“ meinte sie, „ich mache es gar nicht auf!“

Aber schon hatte sie den Deckel abgehoben. Ein grosses Paket, in Papier gesiegelt, kam zum Vorschein. Aus dem Papier entwickelte sich eine zweite Kiste. Helenchen wurde ganz aufgeregt, denn in dieser Kiste steckte wieder eine und so fort, die Papiere flogen umher und das ganze Zimmer stand voll Kisten.

„Es ist abscheulich,“ sagt Helene, „gerade wie in dem Märchen von der alten Frau, welche ein Haus hatte und in dem Hause eine Kammer und in der Kammer einen Schrank und in dem Schrank eine Kiste und in der Kiste wieder eine Kiste und so fort und in der letzten eine Schachtel und so weiter, und in der letzten kleinsten Schachtel war ein Papierchen, und in dem Papierchen wieder ein Papierchen, und in dem allerletzten Papierchen war ein Pfennig; das war ihr einziges Vermögen.“

Endlich kam ein runder in Seidenpapier gewickelter Gegenstand zum Vorschein. „Nun geht's los!“ riefen alle. Es war aber nur eine runde große Apothekerschachtel. Das Seidenpapier flog, eine Schachtel nach der andern kam hervor, die Spannung wurde fast unerträglich. Endlich in der zehnten Schachtel war ein kleiner schwerer, in Papier gewickelter Gegenstand. „Das ist der Pfennig!“ rief Helene, „die gute alte Frau schenkt mir ihr ganzes Vermögen zu Weihnachten!“ Es war aber kein Pfennig, sondern ein kleines zierliches goldenes Kreuz an einer feinen Kette.

„Gerade wie ich es mir gewünscht habe!“ rief Helene verwundert, und ein fragender Blick traf Eduard. Der nickte und mit einem Male hatte sie seine Hand mit ihren beiden erfasst und sah ihm in die Augen.

„Ich danke dir, Eduard.“

„So freundlich hast du mich lange nicht angesehen, Helene,“ entkam es ihm.

Das Julklappen setzten sich noch eine Weile fort, bis endlich alle bedacht waren. Nach der festlichen Aufregung trat eine beschauliche Stille ein. Polly und Murr lagen wohlbehaglich an ihren Lieblingsplätzen, ihre Weihnachtsbescherung verdauend, und Eduard zog sich in seine dunkle Weihnachtslieblingsecke auf den Lehnstuhl hinter dem Tannenbaum zurück und vertiefte sich in ein Buch, das ihm auf seinen Platz gelegt worden war.

„Eduard, du schläfst wohl? “ fragte Helene plötzlich.

„Ich träume nur,“ antwortete er, noch etwas in das Buch versunken.

„Kinder, kommt zum Essen!“ rief die Mutter aus dem Nebenzimmer.

Am zweiten Weihnachtstag, gleich nach dem Mittagessen bei Tante Amalie, wollten Helene und Eduard auf den großen See, um dessen schönes spiegelglattes Eis zu genießen. Helene hatte ein enganschließendes Pelzjäckchen an und den Kopf in einer blauseidenen Kapuze, aus deren weißem Pelzbesatz das frische Gesicht mit dem blonden, widerspenstigen Lockenkranz sehr anmutig hervorschaute.

„Was siehst du mich denn so an? “ fragte sie plötzlich.

„Ich freue mich über meine hübsche Cousine,“ antwortete Eduard.

Ihr stieg ein klein wenig Rot in die Stirne, und sie sprach rasch: „Du gewöhnst dir wohl auf deine alten Tage das Schmeicheln an.“

Die Beiden gelangten nach kurzem Weg an den See. Der alte Wintergreis auf seinem hohen Berg schlief wohl. Es gab kein Tauwetter, aber allein durch die Stille der Luft erschien es wärmer als es war, und die Sonne hatte am Tage so viel Macht, dass sie die gefrorene Erde an der Oberfläche auftaute.

„Wir laufen doch zum Nusswerder?“ fragte Helene, als sie die Schlittschuhe angeschnallt hatten.

„Wie du willst!“ war Eduards Antwort, „die Bahn ist ja abgesteckt.“

Unterdessen hatten sie sich in Bewegung gesetzt und waren auf die breite, mit Büschen und Stangen angedeutete Bahn gelangt, welche von der Polizei jedes Jahr, nachdem das Eis für haltbar erklärt worden war, ausgesteckt wurde, um einen ungefährlichen Weg zu den beliebten Vergnügungsorten zu bezeichnen.

„Wir bleiben doch nicht auf der langweiligen Bahn?“ fragte Helene und ihre Blicke schweiften über die weite, schimmernde Eisfläche hinaus.

Sie glitten eine Weile schweigend dahin. Der noch in ziemlicher Entfernung liegende und vom feinen violetten Duft des Winters angehauchte Nusswerder kam nur langsam näher. Seitwärts über den See hinaus erblickte man in der Ferne eine dunkle Linie über dem Eis, und darüber schwärmte es von unzähligen Möven.

„Da sind die Enten,“ sagte Helene, „ich möchte sie gar zu gerne einmal in der Nähe sehen.“

„Du weißt aber, dass das Eis an solchen stellen sehr dünn werden kann?“ antwortete Eduard.“

„Ich fürchte mich aber gar nicht,“ sagte Helene, indem sie einen kleinen zierlichen Bogen schlug „Du bist doch ein rechter Angsthase. Wenn du nicht mit willst, so laufe ich allein!“ Damit setzte sie sich langsam in Bewegung.

„Helene!“ rief Eduard.

Sie wandte sich um und sah ihn spöttisch an. „Willst du mitkommen? Ich ziehe dich heraus, wenn du ins Wasser fällst.“

Eduard musste sich geschlagen geben und folgte ihr. Aber es war nun doch eine Verstimmung zwischen den beiden, und niemand wollte anfangen zu reden.

Das Eis war glatt und unberührt und von jenem dunklen Glanz, der auf die Tiefe des Wassers deutet. Rings war es still bis auf das unablässige Geräusch der Schlittschuhe.

„Sieh mal,“ sagte Helene plötzlich und hielt an, indem sie auf den Grund deutete. Es war eine flachere Stelle des Sees, und durch die klare Eisdecke konnte man bis auf den weißen Sandgrund sehen, wo die feinen gefiederten Wassergewächse deutlich zu erkennen waren. Zuweilen sah man große Fische vorüberhuschen. Dieser Anblick des tiefen Grundes unter einer durchsichtige Decke hatte aber auch etwas Beängstigendes.

Sie waren den Enten schon ziemlich nahe gekommen und hörten nun deutlich ihr wirres Geschnatter und das Schreien der Möven. Nicht weit von sich bemerkte Eduard den sogenannten „großen Stein“, einen mächtigen Granitblock, welcher aus dem Wasser hervorragt und den Kahnschiffern als Wahrzeichen gilt. Das Wasser hier ist voller Untiefen.

Indem sie auf den Stein zu hielten, trafen sie auf die erste offene von den Enten bereits verlassene Stelle und umfuhren sie in weitem Bogen. Zugleich erhob sich in der Ferne mit Geschrei und gewaltigem Schlagen der Flügel eine Anzahl der Vögel und glitt in brausendem Flug über den See zu anderen offenen Stellen, welche etwa eine Meile entfernt waren. Bei dem großen Stein angelangt, standen sie und sahen dem Wirren und Schwirren zu. Die große Wasserfläche war bedeckt mit Tausenden von nordischen Enten, vorwiegend Schell- und Eisenten, welche hier, diesen Norden als ihren Süden betrachtend, Winterquartiere bezogen hatten. Zwischen ihnen tummelten sich viele Möven, aus der Luft auf das Wasser niederstoßend oder wie helle Punkte zwischen den dunklen Enten schwimmend.

Auf dem Eis in der Nähe saß ein großer Vogel, zwischen den Klauen etwas zerpflückend, dass die Federn davon stoben. „Siehst du den Seeadler?“ sagte Eduard zu Helene, „der hat jetzt leichtes Spiel, er braucht nur zuzustoßen, wenn er Hunger hat.“ Die Nähe der Menschen war ihm wohl unheimlich geworden, denn plötzlich erhob er sich und flog mit gewaltigen Flügelschlägen über den See Richtung Festland.

Sie verbrachten an dieser Stelle eine ziemlich lange Zeit, waren ganz mit dem Betrachten der Enten beschäftigt, und hatten auf nichts weiter geachtet. Erst jetzt, als er dem Seeadler nachblickte, fiel es Eduard auf: Das gegenüberliegende Ufer, das sich vorhin noch deutlich vom See abgehoben hatte, war in bläulichem Dämmer verschwunden. Er schaute sich um nach Nusswerder – nur noch wie ein matter Schein zeichnete es sich in die dicke Luft. Mit einem Male fing es ganz leise und sanft an zu schneien.

„Helene!“ rief er, „wir müssen schnell fort! Wenn der Schnee stärker wird und unsere Spur verdeckt, können wir uns leicht verirren.“

Sie machten sich nun schnell auf, die Spur der Schlittschuhe auf ihrem Herwege verfolgend. Langsam und stetig mehrten sich die Flocken, und kaum waren sie eine kurze Strecke vorwärts gelangt, so war das Eis von dem Schnee bedeckt und die Spur verloren. Sie hielten an und hielten nach der Bahn Ausschau. Aber nichts war ringsum zu sehen, überall nur das leise, stetige Niedersinken der großen Flocken. Die Beiden schlugen aufs Geratewohl die Richtung ein, in welcher sie die Bahn vermuteten. Nach einer Viertelstunde war nichts erreicht, sie mussten die Richtung verfehlt haben. Sie standen nun und horchten, ob ihnen nicht ein Laut zu Hilfe kam. Aber ringsum war es so totenstill, dass man fast das leise Geräusch der fallenden Flocken vernehmen konnte. Nun mehrte sich auch schon der Schnee und fing an, beim Laufen hinderlich zu werden. Aber das Schlimmste war die Gefahr von offenen Stellen, die unter der Schneedecke unsichtbar geworden waren.

Vorsichtig glitten sie nach einer anderen Richtung weiter. So irrten sie eine Weile umher, und fingen auch an, müde zu werden. Plötzlich sah Eduard etwas Dunkles vor sich aus dem Schnee ragen, und da waren sie wieder bei dem großen Stein; sie waren im Kreis gelaufen.

Während sie eine Weile ruhten, fiel Eduard eine Beobachtung ein, welche er vorhin gemacht hatte. Es war ihm aufgefallen, dass die Entenkolonie, der große Stein und Nusswerder in einer geraden Linie lagen, darnach konnte man die Richtung bestimmen. Gelang es ihnen, diese gerade Linie einzuhalten, so mussten sie unbedingt auf Nusswerder treffen. Von dort aus war die Bahn mit Leichtigkeit zu erreichen.

Wieder glitten sie in den Schnee hinaus, wegen der Gefahr unsichtbarer Öffnungen im Eis hielten sie wie schon vorhin etwa zwanzig Schritte Abstand. Als sie eine Weile gelaufen waren, hatte es denn Anschein, dass aus dem Schneegewimmel vor ihnen etwas Dunkles ragte, wie die Umrisse eines Baumes.

Und plötzlich ertönte ein gellender Schrei Helenes. Als Eduard mit scharfem Ruck seinen Lauf anhielt, um zu ihr zurückzublicken, spürte er ein Knistern und Senken  unter seinen Füssen, das ihm kaum Zeit ließ, in schneller Wendung zurückzutaumeln. Wie erstarrt stand Helene hinter ihm. Er sah auch sie wanken und eilte, um sie in seinen Armen aufzufangen. Dann blickte er unwillkürlich zurück und sah jenen dunklen Wasserfleck der Helene zu dem Warnruf veranlasst hatte.

Sie umklammerte ihn und schluchzte leise.

„Helene,“ tröstete Eduard, „es ist ja alles gut.“

„Ich will dich nie wieder necken, Eduard, niemals wieder!“

Er beugte sich zu ihr und fragte leise: „Auch dann nicht, wenn wir für immer beisammen sein werden?“

Sie hob verwundert den Kopf und schaute ihm fragend in die Augen. Dort mochte sie wohl die richtige Deutung gelesen haben, denn langsam stieg ein Rot in ihrem reinen Antlitz auf und sie verbarg es wieder an seiner Brust.

Es war eine kleine Pause, in der er sie sanft an sich drückte.

„Auch dann nicht,“ flüsterte sie leise.

Sir hatten beide vergessen, dass sie verirrt in der großen Einsamkeit des Schneegestöbers standen; was kümmerte es, dass sie den Weg verloren hatten, hatten sie doch den schöneren zu ihren Herzen und zu ihren Lippen gefunden!

„Eduard – Helene – Eduard!“ rief es plötzlich aus der Ferne, und fast erschreckt fuhren sie auseinander. Und wieder rief es, Eduard erkannte die Stimme seines Bruders. Er gab Antwort, und ein vielstimmiges Jubelgeschrei war die Folge. Dann nach einer Weile sahen sie die dunkle Gestalt Hermanns aus dem Schnee hervortauchen, dann eine zweite Gestalt und eine dritte und so fort. Alle, wie sie beim Näherkommen bemerkten, waren mit einem langen Seil verbunden. Sie hatten die Verirrten aus einem hochgelegenen Wirtshaus mit dem Fernrohr beobachtet und wussten, dass sie vom Schnee überrascht auf dem See sein mussten. So hatten sie denn die lange Wäscheleine des Wirtes requiriert, um die Rettungsaktion in Sicherheit durchführen zu können.

Zu Hause bei der Mutter, welche sie schon mit Sorgen erwartet hatte, rief Eduards Bruder, der unterwegs eingeweiht worden war, durch die Türe übermütig hinein: „Julklapp!“ und Helene und Eduard traten Hand in Hand ins Zimmer. Ein Blick der Mutteraugen genügte, und ihre Arme umschlossen beide.

„Mein Lieblingswunsch,“ sagte sie glücklich, „und ihr bösen Kinder habt euch so angestellt? Und was wird Tante Amalie sagen?“

Quellen:
Seidel, Heinrich: Weihnachtsgeschichte in Geschichten und Skizzen aus der Heimath. Zweite Auflage 1885: A.G. Liebeskind, Leipzig

Eingestellt von hojos
im Dezember 2020