Die Pfarre Ober St. Veit vor 100 Jahren
Neuer Aufbruch vor der großen Katastrophe
23.04.2014
Damals, anno 1914, erinnerten sich die Menschen noch gut an die 1890/92 erfolgte Eingemeindung Ober St. Veits nach Wien. Auch die rasch aufeinander folgenden zivilisatorischen Neuerungen wie der Ersatz der Petroleumlampen in der Kirche durch Gaslampen im Jahr 1895 und die im Jahr 1907 vom Pfarrer Hubert Riedl gespendete elektrische Beleuchtung des Kirchenraumes fallen in das Jahrzehnt vor und nach der Jahrhundertwende.
Diesen technischen Errungenschaften stehen auch im pastoralen Bereich einige als fundamental empfundene Neuerungen gegenüber. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich an der Einschränkung der barocken Frömmigkeit durch die Aufklärung und durch die Reformen vor allem Josephs II. wenig geändert. Damals waren die Vielfalt der jährlich begangenen Feiertage und Prozessionen (sie werden in der ab 1765 vorhandenen Pfarrchronik auf vielen Seiten aufgezählt) und die zahlreichen liturgischen Handlungen stark beschnitten worden. Die Aufhebung der Bruderschaften im Jahr 1784 führte ebenfalls zu einer Verkürzung des lokalen religiösen Lebens, und darüber hinaus gingen die Bindungen der weniger religiös gewesenen Bruderschaftsmitglieder an die Pfarre verloren. Der spätere Metternich’sche Polizeistaat bot ebenfalls keinen fruchtbaren Boden für Neuerungen. In weiterer Folge erkannte die Kirche die Möglichkeiten der 1867 eingeführten vollen Vereinsfreiheit erst viel später als das weltliche Ober St. Veit. Glaubensverkündigung, Religionsunterricht, die gesamte Liturgie und die Führung der Personenstandsbücher oblagen dem Pfarrer und seinem Kooperator (Kaplan), nur in der Vermögensverwaltung hatten sie Unterstützung durch Laien, wenn auch nicht im heute geläufigen Ausmaß. Ab dem Jahr 1901 stand dem Pfarrer ein zweiter Kaplan zur Seite.
Anfang 1909 war Johann Gössinger dem im Vorjahr verstorbenen Pfarrer Hubert Riedl nachgefolgt. Er schildert das religiöse Leben in seiner Gemeinde folgendermaßen: „Das religiöse Leben in der Pfarre bietet einige Lichtpunkte durch fleißigen Kirchenbesuch, auch Sakraments-Empfang, besserer Familien, ist aber bei einer Seelenzahl von 10.000 kein gutes. Der Beichtstuhl ist sehr gering, der Besuch der Predigten zu Beginn derselben sehr gering. Bei der Frühpredigt sind zu Anfang oft kaum dreißig Personen in der Kirche. Auch die Nachmittagspredigten – Herz-Jesu-Andacht – und Christenlehre teilen dieses Los. Kinder sind bei den hl. Segen an Samstagen und Sonntagen nur einige wenige. Zum Besuch der Sonntagsmesse bringen die eifrigen Kooperatoren durch vieles Mahnen und Fragen doch die meisten. In Hacking steht es nicht so gut, da dort ein fremder Katechet wirkt.“
Der Beginn der Erneuerung des Kirchenlebens war der Ära der Pfarrer Riedl und Gössinger vorbehalten, und das Stichwort dafür ist schon gefallen, nämlich die „eifrigen Kooperatoren“. Es war im Jahr 1907/08, als der damalige Kaplan und spätere Monsignore und Ehrenkanonikus Gotthard Blümel mit der Gründung des „Katholischen Jünglingsvereines“ für Burschen und der „Patronage“ für Mädchen die bis heut so lebendige Pfarrjugend initiierte. Die Theateraufführungen von Jünglings-Verein und Patronage in den Souterrainräumen des damals noch brandneuen Elisabethinums waren mit Ausnahme des 1890 gegründeten Theatervereins „Edelweiß“ die erste überlieferte Aktivität dieser Art in Ober St. Veit. Radio und Fernsehen gab es noch nicht, nicht einmal ein Kino, und das Volk strömte in Scharen herbei. So auch zur Weihnachtvorstellung am Sonntag, den 21.12.1913. Der Besuch wurde in der Pfarrchronik als „zum Erdrücken“ beschrieben.
Auch manche eigene Initiative Pfarrer Johann Gössingers hatte eine nachhaltige Wirkung. Das heutige Vitushaus war in seiner langen Geschichte auf vielerlei Art genutzt worden. Seit der Eingemeindung 1890 diente es zum Leidwesen des Pfarrers als Wohnung des erzbischöflichen Kutschers und als Wagenremise. Pfarrer Gössinger wagte es ebenfalls im Jahr 1913, heftigen Protest einzulegen, worauf Kardinal Nagl Kutscher und Wagen abzog und die Verwendung des Kutscherzimmers für eine Volksbibliothek bewilligte. Die bis 1990 existierende Volks- und Jugendbibliothek war geboren.
Natürlich war das religiöse Leben außerhalb der Kirche auch vor diesen Neuerungen nicht vollständig zum erliegen gekommen. Beispielsweise gab es nach wie vor die wegen der schweren Choleraepidemie im Jahr 1832 begonnene Prozession nach Mariabrunn. Doch stand auch sie an der Kippe. Pfarrer Gössinger verkündigte bei den Predigten am 5. September 1909: „Dem Vernehmen nach war die Teilnahme in den letzten Jahren eine geringe. Ich bin gerne bereit, diese Prozession wieder zu halten, wenn die Teilnahme eine größere ist. Besonders aber müssten Männer ihre Zusage der Teilnahme geben. Werden bis zum Feste Maria Geburt wenigstens 25 Männer namhaft gemacht, welche an der Prozession teilnehmen, so wird dieselbe Montag, den 13. September stattfinden, andernfalls müsste sie unterbleiben.“ Schon am 7. September brachte der Tischlermeister Johann Fellner ein Blatt mit der Zusage von 40 Männern. An der Prozession nahmen dann über 60 Männer teil, unter diesen die drei Bezirksräte Rohrbacher, Glasauer und Wimpissinger und sogar ein als Sozialdemokrat bekannter Zeitungsausträger. Der Pfarrer war über diesen Beweis der in der Männerwelt noch vorhandenen gläubigen Gesinnung sehr erfreut.
Auch die Fronleichnamsprozession war geblieben. Der 1875 geborene berühmte Ober St. Veiter Lokalschriftsteller Vinzenz Jerabek erinnerte sich aus seinen Kindertagen an den Umzug als ein Elementarereignis, das den ganzen Ort in einer heute unvorstellbaren Weise in den Ausnahmezustand versetzte.
Die Eintragungen in der Pfarrchronik exakt für das Jahr 1914 berichteten im ersten Halbjahr nur vom Auftreten eines Schottenpriesters am Ober St. Veiter Friedhof und von der Einweihung der Doppel-Volksschule in der Amalienstraße. Ab der Ermordung des Thronfolgers und seiner Frau am 28. Juni 1914 und der folgenden Kriegserklärung wurden vor allem die pfarrlichen Wahrnehmungen in diesem Zusammenhang festgehalten.