Umgang im alten Ober St. Veit
Die nachstehend wiedergegebene Schilderung von Vinzenz Jerabek aus dem kirchlichen Leben Ober St. Veits stammt aus einem alten Pfarrblatt (Nr. 6/1953) und wurde auch in der Schrift „700 Jahre Pfarre Ober St. Veit“ abgedruckt.
1953
Vor siebzig Jahren war Ober St. Veit noch ein richtiggehendes Dorf. In der nun von der Großstadt verschlungenen Ortschaft herrschten noch Bräuche aus Urvaters Zeiten: das Dreikönigssingen, Faschingbegraben, Johannesbeten, nach der Weinlese der Hütereinzug und noch andere. Einen Tag aber gab es, der ein Freudentag fürs ganze Dorf gewesen ist, den Fronleichnamstag, allgemein der Umgang genannt.
Die Vorbereitungen zu diesem Fest begannen schon viele Tage vorher. Schneider und Schuster hatten vollauf zu tun, die Häuser wurden getüncht, die Wirtshäuser – ihrer vierzehn gab es im Ort – hergerichtet und die Mädeln liefen mit eingebundenen Köpfen herum; ihre Haare waren nämlich zu „Schneckerln“ zusammengedreht. Droben auf dem Roten Berg übten die Hornisten, herunten bei der „Edleseelack'n“ exerzierten die Schützen und die Veteranen. Dass wir Jungen in der Schule aufgeregt waren, wegen der Witterung, war für den Unterricht schädlich. Hatten doch die meisten von uns irgendeine Verrichtung auszuführen. Wir hüteten uns in diesen Tagen, einen Regenwurm zu zertreten, weil dies drei Tage Regenwetter bedeutete.
Kaum huschte der erste Frühlingsschein über die schwarzen Schindeldächer, da begann es sich schon in den Häusern zu regen. Um die vierte Morgenstunde schmetterten die Feuerwehrhornisten eine Fanfare zum blassblauen Himmel empor, dass die noch schlaftrunkenen Spatzen aus ihren Nestern stoben, alle Hähne aufgeregt krähten, alle Hunde bellten und in den Ställen die Kühe muhten. Das Dorf war wach.
Nun begab sich der alte Hauptfeld, ein Artillerist unter Radetzky, auf den Kreuzbiegelberg – richtig Trazerberg – und richtete die vier Mörser her. Der Alte hatte heute ein wichtiges Geschäft, von dem sozusagen das Ansehen des Dorfes abhing. Die Böller mussten nämlich stärker krachen als die in den umliegenden Ortschaften, wo ebenfalls der Umgang abgehalten wurde. Unsere Lokalpatrioten kamen stets auf ihre Kosten, die Böller übertönten die anderen. Ein Sommergast ist einmal durch den Schall, der sich an dem Hause brach, aus dem Bett gefallen.
Es gab an diesem Tage kein Kind, das geweckt werden musste. Die Mütter, die mit mehreren Töchtern gesegnet waren, hätten sechs Hände gebraucht, um jene so rasch als möglich zu kleiden. Schon ertönten draußen die Marschklänge der verschiedenen Musikkapellen.
Beim „Balwiera“ saßen im Hofe die Männer und warteten auf die Beseitigung ihrer wochenalten Stachelbärte. Der Mann mit dem Messer schabte, kratzte und schnitt, dass ihm der Schweiß herabrann. Ging es auch manchmal ein wenig ins Fleisch, so wurde kein Aufhebens gemacht. Ein Stück Feuerschwamm auf die Wunde gelegt, die Sache war erledigt, „wer kimmt hiazt?“
Unterdessen hatte in den Gassen eine fieberhafte Tätigkeit eingesetzt. Die Hausmauern verschwanden hinter dem grünen Gezweige, den Straßenboden bedeckte ein Teppich aus Gras, durchwoben mit den roten Blättern der Pfingstrosen. In den Fenstern waren Heiligenbilder, von brennenden Kerzen umgeben, und bei den angesehensten Dorfinsassen waren Altäre aufgestellt.
Feuerwehren, Schützen und Veteranen marschierten auf, und jetzt, jetzt kam ein Augenblick, wo die Männer sich streckten, Militär rückte an. Zwei Züge Infanterie mit einer Musikkapelle. Und was so die Alten waren, sind die meisten Soldaten gewesen.
Die große Fahne mit dem Bild des Kirchenpatrons eröffnete den Zug, die Schuljugend unter der Führung des Herrn Schuldieners folgte, aus dem Armenhaus kamen die Alten. Wenn sie sonst auch die ganze Woche stritten, heute waren sie geruhsam. Nur die alte Puchhammerin brummte über den lieben Herrgott, nämlich über den „Armenleutherrgott“, der über hundert Jahre alt war und den Armenhäuslern vorangetragen wurde. „Amal z'schäbig is er schon, frei schama muaß ma sich mit eahm auf der Gass'n ...“
Drinnen in der Kirche war feierliches Hochamt. Bis heraus auf den Kirchenplatz hörte man den jubelnden Gesang. Hierauf große Stille... dann setzten alle Glocken ein, vom Berge donnerten die Böller, das Militär gab die Generaldecharge, die Volkshymne ertönte, und über die Kirchenstiege herab schwankte der „Himmel“ unter dem der letzte Dorfpfarrer, der von uns verehrte „Pokorny-Pfarrer“, das Allerheiligste trug. Der Umgang zog aus, erhebend und feierlich erklang das „Pange lingua gloriosi“ des Kirchenchors.
Die Gassen, die der Zug nahm, glichen grünen Wandelgängen, Weihrauch stieg auf, die Fahnen flatterten, Kerzen brannten, aus den Gärten hingen die Goldregen und Jasminsträucher, der Himmel war tief blau und die Sonne schüttete ihr Gold übers Dorf.
War der Umgang vorüber, so hörte man auf dem Heimweg die Alten sagten: „Weil's nur schön war, dass die Kinder ihr Freud' g'habt hab'n ...“ Dass sie selbst ihre helle Freude an dem hohen Fest hatten, das sagten sie nicht.
Noch am Abend war in den Gassen der Geruch von welkem Gras mit einer Spur Weihrauch zu verspüren. – So war der Umgang in meiner Kinderzeit. Vielleicht ist er heute prunkvoller als einst, aber – es ist nicht mehr das Aufrührende von damals dabei. Es ist auch möglich, dass wir Alten es nicht mehr in dieser Stärke erleben.