Zum Jagdschloß

Speisinger Straße 51

Anton Ludescher nannte im Jahr 1900 sein Gasthaus in Speising „Zum Jagdschloß“, obwohl es ein solches in Speising gar nicht gab. Vielleicht tat er es wegen der kaiserlichen Jagdgesellschaften im Lainzer Tiergarten, die einen Hauch der großen, fremden Welt in das abgeschiedene Speising brachten. Anton Ludescher war nur Pächter der Wirtschaft in der Speisinger Straße 51, die als ehemaliges Gemeindegasthaus wohl die älteste des Ortes war. Aber zweifellos war Herr Ludescher ein tüchtiger Mann: Als 1910 beim Rosenhügel das k. k. Waisenhaus und Taubstummeninstitut errichtet wurde, übernahm er während der zweijährigen Bauzeit dort die Kantine und hielt die Handwerker und Arbeiter mit Bier und Buffet bei Kräften.

Währenddessen übte sich seine Frau Rosa in der Speisinger Straße allein im Gasthausführen. Das mußte sie, nachdem ihr Gatte zu Beginn der zwanziger Jahre das Zeitliche segnete, sowieso noch lange Jahre. Sie gestaltete die Innenräume nun etwas nobler und komfortabler, verwandelte das Gasthaus in ein Restaurant und Café, aber von außen blieb eigentlich alles beim alten. Trotz der Straßenbahnverbindung nach Wien behielt Speising auch in der Zwischenkriegszeit seinen dörflichen Charakter; die Gäste saßen im Sommer statt im Gastraum lieber vor der Tür im improvisierten Schanigarten auf der noch verkehrsarmen Straße.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das dann bald anders und großstädtischer. Und so verschwand auch das alte bäuerliche Gasthaus – pardon: Restaurant – „Zum Jagdschloß“.

Etwas genauer erläutert das „Verschwinden“ des Gasthauses ein Beitrag in der Wiener Volks-Zeitung unbekannten Datums mit der Überschrift: Wo das Wirtshaus „Zum alten Jagdschloß“ stand:

Unserer Generation war das längst baufällige, breitgestreckte Gebäude mit dem Wirtshaus „Zum alten Jagdschloß“ in der Speisinger Straße eigentlich nur mehr als ein Verkehrshindernis bekannt: es verengte die Straße so sehr, daß der 60er und der 62er dort nur eingleisig fahren und in der Gegenrichtung einen weiten Bogen machen mußten.

Aber das alte Dorfwirtshaus hatte seine große Geschichte. Einst kehrten die höfischen Jagdgesellschaften auf dem Heimritt hier ein und hielten schwelgerische Gelage. Dann wurde es ein beliebtes Ausflugsziel der Wiener, die mit der Dampftramway gefahren kamen. Im Garten spielten die Volkssänger auf und im großen „Prachtsaal“ – von dessen Pracht zuletzt nur noch ein paar verblichene Wandbemalungen und Reste von Bühnendekorationen übriggeblieben waren – gab es jeden Sonntag Varietévorstellungen, die großen Zuspruch fanden. Die große Volksschauspielerin Hansi Niese soll hier zum ersten Male aufgetreten sein und sich auf dieser Bühne die Liebe des Wiener Publikums erobert haben.

Aber alles das ist lange her, und zuletzt war dieses verfallende Dorfwirtshaus und noch ein paar benachbarte vermorschte Hütten nichts mehr als ein Hindernis, zum Ärger der Sonntagsausflügler, die längst weiter hinaus wollen. Da entschloß sich die Gemeinde Wien im Zuge ihres großen Erneuerungsprogramms, auch mit diesen dörfischen Resten aus der Vergangenheit aufzuräumen, die alten Hütten niederzureißen und an ihrer Stelle moderne Wohnhäuser zu errichten. Selbstverständlich sollte gleichzeitig damit auch das Verkehrsproblem gelöst und die Straße reguliert werden.

Die Verhandlungen mit den Hausbesitzern führten zu einem befriedigenden Ergebnis: Die Frau Wirtin, die das alte Gasthaus noch von ihren Eltern übernommen hatte, war ihres Gewerbes schon müde und bedingte sich einen Milchladen in einem anderen Gemeindebau aus, dem Kohlenhändler, der seinen Lagerplatz aufgeben mußte, wurde ein Lokal im neuen Haus zugestanden, in dem auch den übrigen drei Wohnparteien Ersatzwohnungen zugesagt wurden.

Und so entstand bald an der Stätte des alten Dorfwirtshauses ein neuer, schmucker und doch im Stil der mehr ländlichen Umgebung angepaßter Häuserblock mit 74 Wohnungen, 7 Geschäftsladen und – ein Zeichen der sozialen Entwicklung – einer Mutterberatungsstelle. In den Gartenhöfen stehen noch die alten Bäume, unter denen einst die Volkssänger aufspielten, aber durch die verbreiterte Straße fließt nun ungehindert der moderne Verkehr.

Die Regulierung der Speisinger Straße beim „Alten Jagdschloß“ ist nur eines – und ein verhältnismäßig bescheidenes – der vielen Assanierungsprojekte, die die Gemeindeverwaltung schon durchgeführt hat und in einem viel größeren Umfang noch plant. So wie es notwendig ist, die städtischen Elendsquartiere allmählich zu beseitigen und gesunde Wohnviertel an ihrer Stelle zu errichten, so werden auch die dörfischen Überreste am Rande der Stadt der Erweiterung und Verjüngung der Großstadt Platz machen müssen.

An mehr als zwanzig Stellen plant die Gemeindeverwaltung eine Erneuerung des Stadtbildes durch Assanierungsbauten. Die Voraussetzung dafür ist freilich, daß endlich ein modernes Bodenbeschaffungsgesetz zustandekommt, das der Gemeinde die Möglichkeit gibt, ungehindert von kleinlichem Egoismus und der Gier der Bodenspekulanten das große Werk auszuführen.

Im Wirtshaus „Zum alten Jagdschloss“. Die Frau Wirtin zeigte die Überreiste der Dekorationen im „Prachtsaal“.
<p><b>Im Wirtshaus „Zum alten Jagdschloss“</b></p><p>Die Frau Wirtin zeigte die Überreiste der Dekorationen im „Prachtsaal“.</p>

Quellen:
Wiener Volks-Zeitung und unbekannte Quellen

übertragen von hojos
im Februar 2014 und im Jänner 2022