Der Turmbläser

Ein weihnachtlicher Zeitungsbeitrag von Josef Reitmeyer
05.12.2024

In dichten Flocken fällt der Schnee vom bleigrauen Himmel. Der alte Hofrichter und seine Ziehtochter, die Liesl, haben ein hartes Gehen. Steil ist der Weg zum Hof. Endlich sind sie dort; ein Hund schlägt an, das Tor knarrt in den Angeln, verhallende Schritte und dann Ruhe, so tiefe Ruhe wie sie bei dem ist, dem die beiden eben die letzte Ehre geschenkt haben. Jok, den Bruder der Liesl, hat man begraben. – In der
Stube ist ein geruhsames Weilen. Im grünen Kachelofen krachen die Buchenscheiter, dass wohlige Wärme den Raum durchzieht. Im Herrgottswinkel sitzt das Mädl und weint bitterlich. Leise knistert der weiße Sand unter den Tritten des unruhig auf und ab gehenden Bauern, der sorgenvoll die Weinende betrachtet und keinen Trost findet.

Jäh steht das Mädl auf, mit Gewalt hält sie die Tränen zurück, wie sie sagt: „Vater, i darf nimmer bei dir bleiben, ein Betrug wär’s, wo du mich armes Waisl so gütig aufgenommen hast, wo du mich zu deiner Tochter gemacht hast. Lass mich geh’n, Vater, ich bitte dich.“

„Dirndl, du bist mein Letztes, das ich hab’, mein Weib ist mir verstorben und mein – mein Bub auch.“

„Vater, das ist nit wahr!“

„’s ist doch wahr und nit wahr! Sitz nieder und lass dir erzählen. hab’ ihn studieren lassen, den Sepp, Lehrer hätt’ er werden sollen. Wie er’s Maturazeugnis heim’bracht hat, ist auch ein Brief kommen. Schulden hat er g’macht, Schulden. Ich hab' g'wartet Tag für Tag dass er sollt’ ’was sagen – nichts hat er g’sagt. Und nachher ist ’s Ärgste ’kommen. In einer Sturmnacht, am Tag, wo er großjährig ist ’worden, da wach’ ich aus ’m Schlaf auf. Hab’ ’was fallen g'hört, hab’ ’was geh’n g’hört. Dieb im Haus, denk’ ich mir, und lauf runter in die Stuben, wo ich im Wandkastel mein Geld hab’. Hab’ gemeint, der Schlag trifft mich. – Durch die aufgerissenen Wolken scheint der Mond. Und scheint auf mein’ Buben, der leichenblass dagestanden ist, ein Messer in der Hand. Damit hat er’s Wandkastl auf’brochen g’habt. Weit offen ist’s g’wesen und um ihn ’rum ist Geld g’legen, Geld und Papier und was weiß ich.

Hab’ kein’ Zorn g’habt, nur ’s Herz hat ’s mir völlig zerdruckt. „Bub,“ sag’ ich stad. „Dass d’ mir das antust, hättest nicht sagen können, Vater, ich hab’ Schulden, gib mir mein’ Mutterteil gleich.“ Er steht und rührt sich nicht. Ich wart’ wart’ umsonst. So such’ ich’s Geld zusammen, das Seine und noch etwas dazu, druck’s ihm in d’ Hand und sag’: „Geh’, geh’ du, mein Bub ist mir in der heutigen Nacht verstorben, ich hab’
kein Kind mehr.“

Da schreit er auf: „Vater, hast nit mehr Vertrauen zu mir, ich hab’ dir nichts stehlen
wollen!“ „Wer denn,“ sag’ ich. „Das, Vater, das darf ich nicht sagen, kann’s nicht“ – „Lurnp,“ sag’ ich d’rauf, spuck aus und geh’. Am nächsten Tag war er fort.

Ein Zettel ist auf’n Tisch g’legen, d’rauf ist g’standen: „Vater, du hast mich z’tiefst ’kränkt, sollt’s sich doch einmal weisen, dass d’ mir Unrecht ’tan hast, dann musst mich schon rufen, von selber komm’ ich nimmer heim. Nie nicht.“

„Drei Jahr hab’ ich nichts mehr g’hört von ihm. – Weil mir’s z’ traurig war allein, hab’ ich dich, wie dei’ Mutterl g’storben ist, als Ziehtochter zu mir genommen. Und jetzt, jetzt, wo ich dich lieber hab’ wie ein eigenes Kind, jetzt willst du auch fort.“

„Ja, Vater, weil ich muss. Der Jok halt, gestern ’vor er g’storben ist – sei mir nit harb Vater, ich sag’ dir alles. Beichtet hat mir der Jok, dass derselbe Bub, der was mein Schatz war und auf einmal nimmer kommen ist, dass das dein Bub war.“

“Der Sepp dein Schatz?“ – „Ja, einmal hat er mir erzählt, dass er seinem Freund die Studi und’s Essen zahlt hat, weil dem sein Vater versstorben war und dass er jezt Schulden hat, aber in ein paar Tagen kriegt er sein Mutterteil, so brauch’ niemand nichts z’wissen. Und dasselb’ hat der Jok g’hört und der, der stehlen hätt’ wollen, das Bauer, Vater, das war mein Bruder, der Jok.“

„Sepp, mein Bub,“ stöhnt der Alte.

„Der Sepp hat ihn erwischt und vertrieben und du hast vermeint, ’n Sepp zu erwischen und weil er mir die Schand hat ersparen wollen, so hat er nichts geredet und nichts gedeutet und du – du hast den Sepp vertrieben, ich aber ich bin schuld daran. Jetzt ist’s gesagt, jetzt kannst mich nimmer mögen, Vater, und d’rum vergelt dir’s Gott dei’ Gutheit zu mir und b’hüt Gott.“

Hochaufgerichtet steht das Mädel, der Bauer aber sitzt am Tisch, den schlohweißen Kopf in den Armen vergraben. „Sepp, mein Bub,“ seufzt er ein ums anderemal. Endlich erhebt er sich. „Liesl, du darfst ja gar nicht fort, du musst mir ja helfen, den Buben finden, dass ich’s gutmachen kann, was ich ihm angetan. Ich muss ihn ja rufen und weiß nit wohin ich schreien soll um mein Buben.“

„Vater, du bist mir nicht harb?“ – „Aber Dirndl, was kannst denn du dafür, Schuld trag’
ich, weil ich kein Vertrauen g’habt hab’.“ „Und der Jok“ sagt's Mädel leise. – „Der Herr geb’ ihm die ewige Ruhe, ich trag’ ihm nichts nach, nur wo mein Bub ist, möcht ich wissen.“

»Vater, das kann ich dir sagen, in der Stadt lebt er schlecht und recht und gibt Stunden, wenn er ein Posten hätt’, tät er mich holen, hat er geschrieben.“ – „Er hat kein’ Posten, jubelt der Bauer, „und wir brauchen einen Lehrer – und in der Stadt ist er.“ Kurzerhand reißt er dem Mädel den Brief aus der Hand; ohne Hut hastet er bald darauf dem Dorfe zu.

Die Gemeinderatssitzung ist vorüber. Einstimmig hatte man den Vorschlag des Bürgermeisters, seinen Buben zum Lehrer zu nehmen, angenommen. Nun sitzt der Alte in seiner Kanzlei und füllt das amtliche Dekret aus und dann schreibt er einen Brief mit harter Mühe und vielem Schweiß. Endlich ist er fertig. „Dein tichlübenter Vatter Hoffrichderbauer und Bürgermmeister.“ „Punktum, Streusand drauf. Spätestens am heiligen Abend rnuss ich Antwort haben, oder ist ’leicht – gar mein Bub – schon selber da? Maria – mein Bub!“

In den nächsten Tagen ab es viel Arbeit im Hofrichterhof. Ein großes Reinemachen hebt an, von der Tenne bis zum Kupfer- und Zinngeschirr, das blitzblank glänzen muss. Auf dem Kamin stehen die Barbarazweige. Im Hofe liegen die Reisigbuschen die Fenster und Winkel zieren sollen, und über dem Tor steht ein ganzes Fichtenbäumchen. Die Stalldirn hat es besonders gnädig mit den Kühen sie striegelt und putzt und lobt und ist freundlich, denn man kann doch nicht wissen, ob nicht der Bauer g’rad’ dann in den Stall kommt, wenn die Viecher red’n können. Die Knechte richten die Krippe aus den Glanz her und lernen ihren Hirtensang aufs neue ein.

Und dann ist der heilige Abend wirklich da. Das ganze Haus riecht nach Tannen- und Fichtenzweigen, nach Kletzenbrot und Weihnachtstriezel und auch sonst riecht es nicht uneben aus der Küche, dass der Jungknecht vor lauter Wasser im Mund den Schlucken bekommt. Nun wird gebetet; mit der großen Räucherpfanne geht der Bauer und beräuchert das Haus, Hof, Stall und Wohnung, Tiere und Menschen und nicht zuletzt die große, auf den Hirtensinger wartende Krippe, vor der die mächtigen Kletzenbrotlaibe liegen.

Endlich geht er in den Obstgarten, beräuchert noch die Bäume, klopft mit dem Finger an ihre Stämme und sagt: „Baum, wach’ auf und trag’, morgen ist der heilige Tag.“ Jetzt ist er gerade fertig, da kommt der Postbote auf der Straße. Fast fällt dem Bauer die Pfanne aus der Hand, denn – er geht vorüber.

„Abends kommt er ja noch einmal, er muss ja kommen,“ tröstet sich der Bauer. Aber ist nicht gekommen. Und der Tag geht trauriger zu Ende, als er begonnen. Es ist schon dunkel, wie die Hirtensinger heimkommen. Sie tragen die Krippe auf ihren Ehrenplatz, geben das Tuch weg, zünden ein paar Lichtlein an und dann beginnen sie mit ihrem Gesang.

„Heut’ hat sich eröffnet das himmlische Tor. Da kugeln die Englein ganz haufenweis hervor.“

Bis sie fertig sind, zündet der Bauer die Lampe an, dann wird gegessen. Aber heuer ist’s gar nicht lustig. Das Gesinde merkt, dass der Bauer und Liesel traurig sind, d’rum sind sie gedrückt, denn sie haben ihre Herrenleute gern. Das Essen ist daher bald vorüber und eins ums andere geht, um sich für die Mette anzuziehen.

Rote Lichter huschen aus dem Ofen. Der Bauer hat die Lampe abgedreht. Nun sitzt er mit Liesel auf der Ofenbank. „Er kann ’s halt nicht vergessen,“ seufzt er, „er mag nicht mehr heim.“ Liesei schluchzt leise. „Vater ich mein’, der Sepp mag mich nimmer.“ Ein Scheit fällt im Ofen. In der Uhr rasselt ’s, dann schreit der Kuckuck die elfte Stunde. „Liesei, horch nur g’rad, jetzt hat der Pfarrer noch einen vierten Turmbläser gefunden. Horch nur g’rad.“

Hastig öffnet er das Fenster und weich und voll Frieden zittert Akkord um Akkord durch die heilige Nacht. „Es ist ein Reis entsprungen – auf, auf, ihr Hirten – und – vom Himmel hoch da komm’ ich her.“ Nun sind sie fertig.

„Dass sie ,Stille Nacht, heilige Nacht' nicht spielen,“ will der Bauer sagen, doch die Rede geht nicht von seinen Lippen, denn weich und jubelnd zugleich perlt es vom Turm hernieder. Ein einziges Instrument singt die selige Weise: „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft , einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar.“

Der Bauer steht wie erstarrt, seine Augen leuchten in seliger Freude, endlich stammelt er: „Liesei, o Liesei, das Hörndl das kenn’ ich, das ist mein’s und das kann nur einer so spielen. Liesei, das ist der Sepp, der da spielt, mein Bub, komm’, so komm’ schon, dass wir ihn heimholen.“

Zu einer Biografie des Autors Josef Reitmeyer kommen Sie HIER.

Quellen:
Das Neuigkeits-Welt-Blatt (Provinz-Ausgabe/Land-Ausgabe) vom 25. Dezember 1924

Übertragen von hojos
im Dezember 2024