Heinrich Lammasch

Rechtsgelehrter, Pazifist und letzter k.k. Ministerpräsident.
14.09.2017

Heinrich Lammasch (* Seitenstetten 1853 – † Salzburg 1920), Professor für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Völkerrecht an der Universität Wien ab 1889, Mitglied des Herrenhauses ab 1899 war in den letzten Jahrzehnten der Monarchie der führende Strafrechtsgelehrte in Österreich und die treibende Kraft bei der Strafrechtsreform. Internationale Reputation erlangte er durch seine Arbeiten zum Asylrecht, seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Berater der österreichischen Delegation bei den Internationalen Friedenskonferenzen in Den Haag (1899 und 1907) und als Präsident des dortigen Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshofes von 1900 bis 1910. Im Juni 1914 wurde er an der Universität Oxford mit einem Ehrendoktorat ausgezeichnet.

Von 1909–1914 wohnte Lammasch mit seiner Familie in Hietzing in dem neuerbauten Haus Maxingstraße 12 – dies war auch die Wiener Adresse von Mitsuko Coudenhove-Kalergi. Er warnte vor der zu engen Anlehnung Österreichs an das Deutsche Reich und sah darin die größte Gefahr für den Frieden, nachdem er erlebt hatte, dass die Repräsentanten des Deutschen Reiches bei der Zweiten Friedenskonferenz in Den Haag eine Schiedsgerichtspflicht bei Konflikten verhinderten. In diesem Punkt war er am ehesten einer Meinung mit Bertha von Suttner, die er von 1901 bis 1905 für den Nobelpreis vorgeschlagen hat, obwohl er ihrem eher „emotional“ denn rational begründeten Pazifismus misstraute. Realistischer als sie und ermutigt durch seine erfolgreiche Tätigkeit in Den Haag galten all seine Bemühungen dem Ausbau des Völkerrechts und internationaler Institutionen.

Im Sommer 1914 warnte er vor der drohenden Eskalation zum Krieg. Nach dessen Ausbruch verfiel er nicht der Kriegspsychose (bis 1916 wurde die Kriegspolitik ja auch von den Sozialdemokraten unterstützt), sondern warb in einer Atmosphäre des Hasses für die gegenseitige Achtung der Nationen und einen tiefgreifenden Frieden, nicht bloß zwischen den Regierungen, sondern auch zwischen den Völkern. In den Jahren 1917 und 1918 hielt Lammasch im wieder einberufenen Herrenhaus drei Reden, in denen er sich für einen Verständigungsfrieden einsetzte: „Hören Sie darum meine Herren auf die Stimme der Menschlichkeit, auf die Stimme der Vernunft, auf die Stimme der Christenheit. Der sogenannte Siegfriede wäre nur ein fauler Friede, ein Waffenstillstand vor einem noch gewaltigeren und entsetzlicheren Waffengang.“ Seine Reden wurden von zahlreichen Anfeindungen und Zwischenrufen begleitet wie „Wir wollen Krieg und Sieg!“, die geforderte Distanzierung vom expansionistischen Bündnispartner Deutschland wurde als Verrat angesehen.

Das mutige Auftreten von Lammasch gegen seine eigene Klasse machte aber einen starken Eindruck. Karl Kraus bezeichnete ihn als Patrioten im tieferen Sinn und brandmarkte die politische Führung als die eigentlichen Hochverräter. Karl Renner stellte später fest, dass Lammasch mit seinen Warnungen recht gehabt hatte, aber damals nur Spott und Verwünschung erntete. Für Josef Redlich ist Lammasch der moralische Sieger geblieben, während alle Parteien versagt hätten.

In Salzburg hatte der katholische Gelehrte Lammasch nicht nur mit Ignaz Seipel Kontakt, sondern auch mit Stefan Zweig und dem bereits 1912 von Ober St. Veit nach Salzburg übersiedelten Hermann Bahr, dessen offener, kriegspatriotischer Brief nach Kriegsbeginn an Hugo von Hofmannsthal (am Lagerfeuer!) die heftige Kritik von Karl Kraus hervor rief. Dieser hatte ja bereits fünfzehn Jahre früher die Tätigkeit und Bestechlichkeit Bahrs als Theaterautor und -kritiker in Zusammenhang mit dem Erwerb des Baugrunds für seine Olbrich-Villa in Ober St. Veit angeprangert. In den letzten Tagen der Monarchie war der wendige und vielseitige Hermann Bahr in das Lager der Pazifisten gewechselt und versuchte zum Entsetzen Hofmannsthals mit Hilfe seiner Beziehung zu Lammasch ein mehrjähriges Engagement seiner Frau an der Oper zu erzwingen. In seinem Nachruf auf Lammasch stellte Bahr fest, wie sehr der eine Mann den Verleumdungen der Kriegspatrioten standgehalten hat.

Im Oktober 1918 wurde Lammasch zum letzten k.k. Ministerpräsidenten ernannt. An eine Rettung der Monarchie war nicht mehr zu denken, aber er konnte Kaiser Karl zum Verzicht auf die Staatsgeschäfte bewegen und eine friedliche Übergabe gelang. Lammasch empfahl seinem klein gewordenen Vaterland einen selbstständigen, neutralen Status nach dem Vorbild der Schweiz und entwickelte Vorschläge für eine europäische Friedensordnung im Rahmen des Völkerbunds. Im Folgejahr nahm er ebenso wie der aus Ober St. Veit stammende Rudolf Slatin-Pascha als Sachverständiger an der Friedenskonferenz in St. Germain teil, ihre hervorragende Stellung ist aus dem Foto der Delegation ersichtlich.

Die österreichische Delegation 1919 bei den Friedensverhandlungen von St. Germain-en-Laye. Als Ergebnis wurden die Auflösung der Monarchie und die Bedingungen für die neue Republik Österreich diktiert. Sitzend 2.v.l.: Rudolf Slatin Pascha; 4.v.l.: Karl Renner; 5.v.l.: Heinrich Lammasch. © IMAGNO/Ullstein
<p><b>Die österreichische Delegation 1919 bei den Friedensverhandlungen von St. Germain-en-Laye</b></p><p>Als Ergebnis wurden die Auflösung der Monarchie und die Bedingungen für die neue Republik Österreich diktiert. Sitzend 2.v.l.: Rudolf Slatin Pascha; 4.v.l.: Karl Renner; 5.v.l.: Heinrich Lammasch.</p><p><i>&copy; IMAGNO/Ullstein</i></p>

Nach dem Ersten Weltkrieg war das Weltkriegsgedenken zunehmend von Verdrängung, Verharmlosung und der „Dolchstoßlegende“ bestimmt, zahlreiche „Heldendenkmäler“ entstanden. Hunderttausend Menschen säumten den Weg des Trauerkondukts beim Begräbnis Conrad von Hötzendorfs im Jahr 1925, von der Ringstraße bis zur Maxingstraße und zum Hietzinger Friedhof.

Eine Persönlichkeit wie Heinrich Lammasch, der unbeirrt gegen den Krieg und gegen Völkerrechtsverletzungen aufgetreten ist, der sich für internationale Institutionen, die friedliche Auflösung der Monarchie, die Errichtung einer unabhängigen, neutralen Republik und die Etablierung einer weltweiten Friedensordnung eingetreten ist, geriet in der Zeit des erstarkenden Nationalismus und Revanchismus zunehmend in Vergessenheit. Sein Tod im Jänner 1920 fand nur geringe Beachtung, Stefan Zweig berichtet an Romain Rolland erschüttert von dem Begräbnis mit nur fünf Trauergästen: „So begräbt man die Besiegten unsterblicher Ideen. Mir bleibt für immer ein Ekel vor jeglicher Politik“. Karl Kraus äußert in seinem Nachruf den Wunsch, „dass die Zeit, die seines Lebens nicht würdig war, durch sein Andenken Ehre gewinnen möge“.

Ein Wunsch, der bis heute offen ist!

Dieter Köberl
im September 2017, ergänzt März 2018