Niederschrift des Vortrages: "Vor 66 Jahren"
Professor Felix Steinwandtner, geboren 1937, erzählt aus seinen Kindertagen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren
12.03.2011
Der Vortrag fand im Rahmen einer Veranstaltung der Hietzinger Bezirksakademie im Bezirksmuseum Hietzing statt. Im Folgenden ein paar Fotos von der Veranstaltung (bitte anklicken):
Vorweg sind hier ein paar Hörproben abrufbar (das Laden der Datei kann einige Zeit in Anspruch nehmen).
Die Niederschrift ist in folgende, direkt aufrufbare Kapitel gegliedert:
Mein Vater musste 1939 kurzfristig zu einer Wehrübung einrücken und ist erst 1946 zurückgekommen. Bei der Gelegenheit hat er ganz Europa kennengelernt, wird die Reise aber nicht genossen haben.
Ich ging als erstes in den Kindergarten der Wenzgasse. Die Schule in der Wenzgasse hatte einen Kindergarten, den die Mädchen der Oberstufe betreuten. Ich kann mich nicht erinnern, dort nationalsozialistisch beeinflusst worden zu sein. Einmal, bei einer Veranstaltung, sang ich mit einem Mädchen "An der Laterne vor dem großen Tor". Damals hatte ich noch eine Singstimme. Dann wurde dieser Kindergarten geschlossen und ich kam nach Ober St. Veit ins Elisabethinum. Darin war damals ein NS-Kindergarten. Der Klosterkindergarten in Unter St. Veit war gesperrt.
Im NS-Kindergarten wurden wir politisch beeinflusst. In der Früh, wenn es nicht regnete, trat man im Hof des Kindergartens an und auf dem dort stehenden Fahnenmast wurde eine Hakenkreuzfahne aufgezogen. Wir sangen ein Lied, ich weiß nicht mehr welches Lied, ich vermute das Horst-Wessel-Lied. In lebhafter Erinnerung ist mir aber geblieben, dass ich nie die zusammengelegte Fahne hintragen und ich auch nie die Fahne hinaufkurbeln durfte. Der Felix Steinwandtner wurde nie dazu ausgesucht. Es war nicht passend, wenn ein Kind morgens kommt und "Heil, Grüß Gott" sagt. Also immer wieder: "Unser Führer ...", und klarer Weise hing in jedem Raum ein riesiges Führerbild. Immer, wenn der Kindergarten aus war und wir abgeholt wurden, mussten wir uns an unsere niederen Esstischchen mit den roten, leicht zu reinigenden Eternitplatten setzen. Einmal, während ich dort saß und wartete, bis ich abgeholt wurde, begann ich, mit Spucke ein Zelt zu zeichnen und dieses mit vielen Hakenkreuzfahnen zu verzieren. Als die Kindergärtnerin herein kam und dies sah, bekam sie einen Anfall. Hätte ich das mit einem Bleistift gemacht, wäre nichts gewesen; aber weil ich es mit Spucke machte, begann sie mich zusammenzubrüllen und beschloss, dass ich an diesem Tag erst als letztes Kind gehen durfte. Die Straßenbahnpensionistin, die mich abholte, ich musste ja nach Unter St. Veit, war wie immer zeitgerecht da. Sie musste eine Dreiviertelstunde warten, bis das letzte Kind gegangen war, dann durfte auch ich abgeholt werden.
Dann kommt die Schulzeit. Die Unter St. Veiter Volksschule war geschlossen, ich ging in die Volksschule am Platz. Im heutigen Museumsgebäude war im Parterre die Städtische Bestattung, im ersten Stock die Direktion der Schule und im zweiten Stock eine Wohnung. Unterrichtet wurde so wie heute im rückwärtigen Trakt. Wenn wir in die Klasse kamen, grüßten wir mit "Heil Hitler!", ich sagte des Öfteren "Heil Gott", das weiß ich ganz genau.
Nach einer Woche Unterricht wurde meine Mutter in die Schule gerufen, und die Frau Lehrerin beklagte sich über meine fürchterliche Schrift und bei der Gelegenheit sagte sie auch: "In Ihrer Familie stimmt garantiert etwas nicht, der Bub kann nicht anständig grüßen!" Also in der Früh "Heil Hitler!" Dann, beim Glockenläuten ging die Frau Lehrerin an die Kante des Podiums, wir mussten aufstehen und sie sagte: "Wir denken an unseren Führer!", dann kam der Deutsche Gruß, der war endlos lang, und dann sagte sie: "So, jetzt wollen wir etwas lernen, damit der Führer an uns eine Freude hat!" So war es damals in den Volksschulen.
Im 1944er-Jahr hatten wir im Raum Wien die ersten Bombenangriffe, und im Augenblick des Voralarms wurden wir nach Hause entlassen. Die Meisten von uns waren aus dem Bezirksteil Hietzing, aus Unter St. Veit waren wir zu dritt. Es hätte eine Straßenbahnverbindung zu uns nach Hause gegeben, aber wegen der zwei oder drei Stationen gab es damals keinen Freifahrschein und wir mussten zu Fuß nach Hause gehen. In der Regel ging es sich zeitmäßig sehr gut aus, denn in dem Augenblick, als im Meldekreis Steinamanger feindliche Flugzeuge zu sehen waren, wurde in Wien der Voralarm gegeben, der sogenannte Kuckuck. Alle, die ein Radio besaßen, hatten es ab 9 oder ½10 Uhr vormittags am Fenster stehen und laut aufgedreht, es gab nur einen Sender. Wenn der Kuckuck zu hören war, wussten alle Bescheid. Später erfuhr man, ob die Flugzeuge z.B. nach Graz abgedreht hatten oder nur bis Wr. Neustadt geflogen waren.
Vor dem Verlassen des Schulhauses mussten wir uns das an einer Spagatschnur befestigte Kärtchen, das jeder von uns hatte und auf dem unser Name und die Adresse geschrieben standen, umhängen. So stapften wir also die Hietzinger Hauptstraße entlang hinauf nach Unter St. Veit und kamen nach Hause.
Wir wohnten im Haus neben der Kirche (heute ist es das Bürogebäude meiner Tochter) und gingen in den Keller des Klosters vis a vis. Wir hatten angenommen, dass er sicher war. Wir hatten zwar auch einen Hauskeller, einen ehemaligen Eiskeller, der sogar über eine Betondecke verfügte. Er hatte der Fleischerei gedient, die von meinen Großeltern gegründet und dann von meinen Eltern und auch von mir betrieben wurde. Aber wir gingen halt in den Luftschutzkeller des Klosters gegenüber. Dessen Gewölbe war um ca. 1840 erbaut worden, und bei einem Bombentreffer wären wir wahrscheinlich alle am Staub erstickt. Drüben warteten wir, bis etwas zu spüren war oder bis eine Entwarnung kam. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals ein Mann mit uns im Luftschutzkeller war – mit Ausnahme unseres Pfarrers Monsignore Blümel und unseres Mesners. Es gab wohl Männer in unserer Nähe, wie zum Beispiel Ärzte, aber die gingen irgendwo anders hin. Bei uns waren nur Frauen und Kinder, und alle hatten einen kleinen Koffer. Wie ungenügend das gewesen wäre, falls die Wohnung des Betreffenden ausgebombt worden wäre, sahen wir erst später.
Es gab also diese Angriffe, und am Montag den 19. Februar 1945 war der erste große Angriff auf unseren Bereich. Er betraf Hietzing, das Schloss Schönbrunn und die Verbindungsbahn. Nach den Bombenangriffen, die man registrierte und auf einen Plan eintrug, dürfte auf die Verbindungsbahn gezielt wurden sein, sowohl im Hietzinger als auch im Penzinger Bereich. Die beginnende Westbahn und die Treffer waren wie in einem Parallelogramm um 100–150 Meter verschoben. Auch während der Bombentreffer des 19. Februar waren wir im Keller und spürten die Erde beben. Dann kam die Entwarnung und meine Mutter und eine andere Frau gingen hinauf auf die Gasse um nachzuschauen. Ich weiß noch wie sie zurückkamen, beide waren leichenblass, und meine Mutter sagte: "Die Frau Hölzl und das Ehepaar Schaf müssen heute wo anders schlafen". Das war die Form, in der meine Mutter den beiden Ehepaaren, die mit uns im Keller waren, mitteilte, dass sie keine Wohnung mehr hatten. Wir gingen dann hinaus, und den Geruch nach zertrümmerten Gestein und zerbrochenem Holz habe ich heute noch in der Nase. Es war ein ähnlicher Geruch, wie es ihn noch vor wenigen Jahren beim radikalen Abbruch von Häusern gab – heute gibt es das nicht mehr, jetzt wird alles getrennt und sortiert. Wir gingen dann in der Gegend herum und sahen Bombentreffer in der Kremsergasse und in einem Haus, in dem drei Schwestern gewohnt hatten. Sie befanden sich im Hauskeller und waren tot.
Das Wetter an diesem 19. Februar war sonnig und trocken mit wenigen Plusgraden, es gab keinen Schnee. Es gab Bombentrichter auf den Straßen, daraus drang entweder das Wasser von zerborstenen Wasserleitungen oder Gasflammen aus entzündeten Gasleitungen. Beides – sowohl die Wasserleitungen als auch die Gasleitungen – wurden relativ rasch abgesperrt und damit die Wasserüberflutungen und der Gasaustritt gestoppt. Hier gab es offensichtlich ein enges Betreuernetz, das von den Schäden erfuhr und die nächsten Absperrhähne kannte. Natürlich war man bedacht, die damals schon grundsätzlich knappe Energie zu retten.
Am Dienstag gingen wir wie immer in die Schule. Am Mittwoch rief wieder der Kuckuck, die Sirenen kündigten "Voralarm" an, und wir wurden nach Hause entlassen. Das Wetter an diesem Tag war wieder klar und etwas kalt. Es stand ein riesiger Angriff auf den Raum Wien bevor, von dem – wie am Montag zuvor – auch Unter St. Veit und in verheerender Weise der Tiergarten Schönbrunn betroffen war.
Wir hatten schon Tage vorher immer wieder das Schreien der Tiere gehört, sei es aus Hunger oder aus Angst. Das sind unauslöschliche Erinnerungen. Wir hörten es gut, denn am Vormittag während der Pause musste gelüftet werden. Ans Fenster durften wir zwar nicht, da hätten wir hinausfallen könnten. Auch nach der Vorwarnung am Mittwoch schrien sie irre. Man müsste Zoologen fragen, welche Tierarten das waren.
Exkurs zum Tiergarten Schönbrunn
Wie wir damals nur aus Erzählungen erfahren hatten, waren die Zerstörungen im Tiergarten Schönbrunn gigantisch. Der damalige Tiergartendirektor beging Selbstmord, als die Russen kamen. Sein damals 29 Jahre alter Nachfolger Brachetka (am 3. Jänner 2011 feierte er seinen 95 Geburtstag) brachte 1947 das Buch "Schönbrunn und sein Tiergarten" heraus. Darin stand unter anderem: "Was Schönbrunn anbetrifft, sank der Tierstand vom Jänner 1939 bis Jänner 1945 von 2.200 auf 1.300 Köpfe, nach den verheerenden Tagesangriffen durch die amerikanische Luftwaffe am 19. und vor allem am 21. Februar 1945 bis auf wenige hunderte."
Damals durften die Bombenschäden nicht fotografiert werden, nur einigen wenigen war das erlaubt, aber es gibt einige Fotos die zeigen, dass z. B. der Bereich der Wisente total zerstört war. Bracheta schreibt weiter: "Russen kamen immer näher, auch der Tiergarten stand unter Artilleriebeschuss, nahm davon aber glücklicherweise keinen Schaden. Am 9. April kamen die ersten Russen über den Glorietteberg in den Tiergarten."
Und dann schreibt er etwas, das man meistens verschweigt: "Der Tiergarten hätte ohne der Möglichkeit der Versorgung insbesondere mit Fleisch und Raufutter in kürzester Zeit zugrunde gehen müssen. Es ist der bleibende Verdienst eines russischen Generals, durch die Errichtung eines eigenen Tiergartenkommandos, dem mit Hilfe eines Lastautos die Aufbringung von Heu bzw. Grünfutter und Pferdefleisch oblag, dieses Schicksal abgewendet zu haben. Dieses Kommando führte bis zum Juli 1945 die Versorgung durch."
Es gibt offensichtlich in der Welt immer jemanden, der für gewisse Dinge einen Sinn hat. Denken wir an die Geschichte der Lipizzaner. Hier war es auch ein nichtösterreichischer Offizier, ich glaube ein Oberst, der die Lipizzaner gerettet, zusammengeführt und vor der Schlachtung oder dem körperlichen Einsatz bewahrt hatte. "Es war ein irrsinniger ideeller Wert für die Republik, und die darauffolgenden als besser bezeichneten Monate war es Aufgabe der Tiergartenbetreuer", fährt Bracheta weiter fort. Kein Mensch redet heute mehr davon. Man hört nur: "Ja die Russen, die haben eine Erbsenlieferung gegeben, haben gestohlen und grausliche Schandtaten begangen!". Dass es einzelne gab, einzelne Kommandanten, die den kulturellen und historischen Wert von Einrichtungen erkannten, sind Sachen, die man mehr oder minder vergisst. "Und ohne die Hilfe der russischen Militärbehörden, die käuflich Heu für unsere Pflanzenfresser überließen, wäre die Durchbringung der Tiere über den Winter 1945/46 kaum möglich gewesen."
Im Herbst 1945 war Hietzing bereits britische Zone, aber die Engländer hatten sich für das sichtlich nicht interessiert. So, das war ein Exkurs, der über unser Thema hinausging.
Anfang April war Ostern, Unterricht war bis Karsamstag. Die katholischen Feiertage waren ja alle gestrichen, Ostermontag, Pfingsmontag, Fronleichnam ... Allerheiligen hatte man schon Ende der 1930er-Jahre an einem Sonntag gefeiert, wie die evangelischen Kirche den Totensonntag. Es sollte ja keine Arbeitszeit oder Produktionszeit verloren gehen. Ich kann mich noch an Ostern erinnern, als ich ein kleiner Ministrant war, einer von vielen ganz hinten, und als am Heiligen Grab zwei Kerzen brannten. Es gab ein wunderschönes Heiliges Grab in Unter St. Veit, und da brannten nur zwei Kerzen. An sich war das Abbrennen von Kerzen seit Dezember 1940 verboten. Man musste Material sparen und das Wachs oder das Stearin wurde für andere Sachen gebraucht. Zu Hause hatten wir das so genannte Öllicht. Früher hatte man das bei Kranken, damit sie in der Nacht nicht das Licht aufdrehen mussten oder noch früher die Petroleumlampen. In einem Glas war etwas Wasser, darüber eine Schicht von zwei bis drei Zentimeter Öl und darauf ein Schwimmer mit einem Docht. Angezündet war es eine winzige Funzel. Solche kleine Öllichter stellte man auch auf das Grab der Großeltern und Urgroßeltern; Kerzen gab es damals nicht und es war eben verboten, sie zu verwenden.
Am Karsamstag hatten wir den letzten Unterricht, und man wusste von der näher rückenden Front. Wir wurden schulentlassen, die nächste Schultag wurde für frühestens in drei Wochen angekündigt. Zum selben Zeitpunkt wurde Wien zur offenen Stadt erklärt. Seit den großen Bombardements vom 13. und 14. März in Wien, auch in Schönbrunn und der Inneren Stadt, hatten die Bombardements im Wiener Bereich nachgelassen. Graz wurde hingegen noch bombardiert, als in Wien bereits die Republik ausgerufen war. Die Kämpfe in den Bundesländern oder Gauen, wie sie damals hießen, gingen lange weiter. Ostern wurde verbracht, es war wieder schön und kühl, es gab allerdings eine ungeheuer gespannte Stimmung. Wir Kinder bekamen allerdings in Wirklichkeit die furchtbare Gefahr, die auf uns zukommen konnte, weder bei den Bombardements noch dann, als es geheißen hatte, die Front rückt näher, richtig mit. Wahrscheinlich gibt es im Inneren eine Bremse oder ist es noch die Unerfahrenheit. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass meine Großmutter, meine Mutter und meine Tante, die mit uns im Haus lebten, total verzweifelt gewesen wären. Da war ein gewisser Fatalismus vorherrschend: Da müssen wir jetzt durch, und wir werden sehen, was der morgige Tag bringt. Viel anders konnte es nicht gewesen sein.
Am Karsamstag hatten wir den letzten Unterricht, und man wusste von der näher rückenden Front. Wir wurden schulentlassen, die nächste Schultag wurde für frühestens in drei Wochen angekündigt. Zum selben Zeitpunkt wurde Wien zur offenen Stadt erklärt. Seit den großen Bombardements vom 13. und 14. März in Wien, auch in Schönbrunn und der Inneren Stadt, hatten die Bombardements im Wiener Bereich nachgelassen. Graz wurde hingegen noch bombardiert, als in Wien bereits die Republik ausgerufen war. Die Kämpfe in den Bundesländern oder Gauen, wie sie damals hießen, gingen lange weiter.
Ostern wurde verbracht, es war wieder schön und kühl, es gab allerdings eine ungeheuer gespannte Stimmung. Wir Kinder bekamen allerdings in Wirklichkeit die furchtbare Gefahr, die auf uns zukommen konnte, weder bei den Bombardements noch dann, als es geheißen hatte, die Front rückt näher, richtig mit. Wahrscheinlich gibt es im Inneren eine Bremse oder ist es noch die Unerfahrenheit. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass meine Großmutter, meine Mutter und meine Tante, die mit uns im Haus lebten, total verzweifelt gewesen wären. Da war ein gewisser Fatalismus vorherrschend: Da müssen wir jetzt durch, und wir werden sehen, was der morgige Tag bringt. Viel anders konnte es nicht gewesen sein.
An der Grenze zwischen Ober und Unter St. Veit, am Kai, wo jetzt der Hinteregger-Turm steht, war früher die Bossi-Fabrik, die ursprünglich Hüte und dann Militärbekleidungen erzeugte, etwa ab 1860. Dieses Fabriksgelände war bereits im Ersten Weltkrieg ein Monturdepot. Da wurden militärische Uniformen etc. zum Teil erzeugt aber zum größten Teil gelagert. Dort gab es gleich daneben einen Anschluss an die Verbindungsbahn und damit an das gesamte Bahnnetz der Monarchie.
Plötzlich gab es die Nachricht, dass die Bossi-Fabrik geräumt werden kann. Sie kam durch die Mundpropaganda, Zeitungen gab es ja keine mehr, zeitweise gab es auch keinen Strom. Jeder, der noch von früher einen Detektor hatte, kramte ihn heraus und horchte. Tatsächlich konnte jeder zum Depot gehen und mitnehmen, was er tragen konnte. Von der St.-Veit-Gasse waren es nur einige hundert Meter und ich mit meinen knappen acht Jahren ging natürlich auch hin. Ich sah Leute mit Textilballen und großen Säcken herauskommen, als Kind ist man da natürlich "Zweiter".
Das Erste, das ich nach Hause brachte, waren zwei Karton Aluminiumnägel. Als unser Geschäftshaus 1992/93 weggerissen wurde, hatten wir noch einige davon. Für Weichholz waren sie nicht schlecht, aber sie hatten keine Köpfe. Beim zweiten Mal kam ich in einen Raum, da gab es Knöpfe, weiße Knöpfe, die man allfällig für die Uniform in anderen Farben überstreichen konnte und auch relativ schwere Schachteln. Ich war bereits ein wenig raffinierter und hatte ein kleines Kinderhandwagerl mit. Ich brachte ein paar Schachteln dieser Knöpfe und drei dieser schweren Schachteln, die ich zwar nicht aufbrachte, weil sie so gut verklebt waren, aber deshalb für wertvoll hielt, nach Hause. Meine Großmutter meinte: "Um Gottes Willen Knöpfe! Aber gut, man kann sie mit etwas Stoff überziehen, nicht schlecht ... ." Brauchen konnte man alles. Dann öffnete sie die andere, und es waren Stecknadel drinnen. Nach der Größe der Schachteln weiß ich heute, das waren je zwei Kilo Stecknadeln, aber diese Stecknadeln haben etwas gebracht. Mit der nächsten Tour brachte ich einen Pack Moskitonetze, ein Paar Pakete Flanell-Binden für das Knie oder das Kreuz und etliche so Sachen. Ich hörte auch von Zucker, aber die 50-Kilo-Säcke waren mir zu schwer.
Dann hieß es plötzlich: So, in einer Stunde wird die Fabrik gesprengt. Damit war ich mit meinem kleinen Kinderhandwagerl wieder am Heimweg. Ich war alleine, meine Mutter hatte knapp vorher die Gelbsucht, sie sah furchtbar aus und ging deshalb nicht gerne auf die Straße, meine Großmutter war gehbehindert. Vis a vis war das Kloster Herz Jesu mit ca. 130 Klosterschwestern. Ich sehe mich heute noch mit dem Handwagerl bei unserem Haustor herausfahren, als aus dem Haustor des Klosters eine Frau in einem Dirndl mit einem breiten flachen Handwagen herauskam. Meine Großmutter sagte: "Aber Schwester Chrisologa!". "Was heißt Chrisologa, die Tante Bärbl bin i!" Für die damalige Zeit ungewöhnlich hatte die Schwester Zivilgewand angezogen und viel nach Hause geschleppt. Zwei, drei Senioren, die dort im Greisenasyl waren, gingen mit und halfen den Wagen schieben. Die Tante Bärbel brachte auch Zucker und anderes.
An einem der letzten Tage, an dem wir noch Schule hatten, kamen wir von der Schule ohne Voralarm nach Hause. Auf der Hietzinger Hauptstraße, ungefähr auf der Höhe der Buchhandlung Kleemann, da war auch ein kleines Milchgeschäft (damals gab es überall eine Fülle von Nahversorgern), sahen wir Leute in einem schwarzen Gewand, die Frauen mit schwarzen Kopftüchern und Taschen. Was ist da los, fragten wir uns. Oben sahen wir den Bahnschranken wie üblich geschlossen und Waggons stehen.
Das waren Vertriebene aus Siebenbürgen. Der Zug machte dort eine unfreiwillige Pause, weil die Kohlen ausgegangen waren. Den Leuten war in ihrer Heimat geraten worden, nur das notwendigste Mitzunehmen, weil jetzt kommt die Front und in zwei, drei Tagen seien sie wieder zurück. Alles nicht passiert. Die Frauen nützten die Pause, um auszuschwärmen und zu sehen, ob es irgendwo irgendetwas zum Essen gab. Sie waren bereit, auch den Ehering herzugeben, aber wir hatten ja auch nichts. Das war mein erstes Erlebnis mit Flüchtlingen.
Als ich nach Hause kam und in unsere Gasse einbog, kam meine Mutter gerade mit einer kleinen Tasche aus dem Kloster heraus. Sie hatte Tee und Sacharin ins Kloster gebracht. Mein Vater war als Kraftfahrer bei einer Versorgungseinheit; er war des Öfteren in Wien und brachte immer wieder etwas mit. Unter anderem einmal ungefähr eine Schuhschachtel voll mit offenem Sacharin, so wie es produziert wurde, und einige Packerl pulverisierten Tee. Davon gab meine Mutter etliches ins Kloster hinüber, damit den Flüchtlingen wenigstens etwas gesüßter Tee gegeben werden konnte. Diese Sachen waren sehr wichtig, weil sie die Grundversorgung auf dem Tauschweg etwas ergänzen konnten.
In der Nacht darauf hörten wir ein eigenartiges Blöcken. Vorsichtig schlichen wir zum Haustor, die Großmutter öffnete und wir sahen eine durch die Straße ziehende Schafherde. Eine Brücke über den Wienfluss war bombenbeschädigt, auf dem zuführenden Gleis stand ein Zug und die Leute mussten aussteigen, zu Fuß hinauf bis zur Veitingergasse gehen und konnten dort in einen anderen Zug einsteigen. Da waren ganz kleine, frischgeworfene Lämmer dabei. Ich fragte, ob ich mir eines nehmen darf, aber die Oma sagte: "Nein, das ist das einzige, das diese Leute noch haben; das was sie am Körper tragen und diese paar Tiere." Es fuhren noch ein paar pferdebespannte Wägen mit allerhand Bündeln vorbei. So habe ich Flüchtlinge erlebt, da waren wir noch das Großdeutsche Reich.
In den Endkampf wurden auch die Kinder eingebunden. Es gab so genannte Sammeltage. Wir knieten auf den Wiesen vor dem Palmenhaus und zwickten mit den Fingernägel die Köpfe der Gänseblümchen ab. In ein oder zwei Klassen war Packpapier aufgelegt, und darauf wurden die Blüten getrocknet. Man sagte, das wird ein Tee für die Verwundeten.
Wir hatten auch eine Knochensammlung. Das wenige Fleisch und die Knochen, die es noch gab, hatten die Leute ausgesotten bis zum geht nicht mehr. Die danach verbliebenen Knochen wurden gesammelt. Manche Mitschüler kamen mit 10–15 dag bereits ausgesottenen Knochen. Die gesammelten Knochen wurden mit Hochdruckgeräten nochmals ausgesotten und damit konnte noch etwas Fett gewonnen werden. Die zerkleinerten Knochen dienten dann als Dünger. Ich war hier der Kaiser, denn in unserer Fleischhauerei zuhause fielen mehr Knochen an. Bei den zwei oder drei Knochensammlungen, die es gab, brachte ich ein Netz mit Rippenknochen, die zwar auch nicht viel hergaben, aber vergleichsweise hatte ich am meisten abzugeben. Ein Plus für einen, der ansonsten bei der Frau Lehrerin nicht gut dastand.
Was das "Nicht gut Dastehen" betrifft, greife ich jetzt ein wenig vor. Mein Vater wurde 1938 zu einer "kurzen" Übung eingeladen. Während der Invasion 1944 geriet er in englische Kriegsgefangenschaft und galt bei uns als vermisst.
Als er zurückgekommen war, besuchte ihn sein ehemaliger Kompaniekommandant in unserem Haus. Geschichte interessierte mich schon damals und ich saß daneben, als der Herr Major Vogel sagte: "Franz, du weißt ja eh, warum du nur Stabsgefreiter geworden bist?" Mein Vater wusste es nicht. Mein Vater war erst zwei Wochen vor der Gefangenschaft zum Stabsgefreiten geworden, hatte aber eine Reihe von Orden. Es waren höhere Orden, als ein Gefreiter bekommen konnte, er hatte eigentlich für Leutnants bestimmte Orden. Die hatte er bekommen, weil ihm der Kompaniekommandant sehr gut gesonnen war.
Mein Vater hatte das Glück, schon am Beginn über sämtliche Führerscheine zu verfügen und wurde deshalb gleich zu einer Versorgungskompanie auf einen LKW eingeteilt. Alle seine Kameraden wurden auf Unteroffizierskurse gerufen und von diesen überlebte aber fast keiner. Er aber blieb ein simpler Kraftfahrer. "Du warst ja politisch unzuverlässig!"
Als mein Vater um die Pension ansuchte, sah er das in den Unterlagen aus dem Kriegsarchiv, die man damals beibringen musste, bestätigt. Mein Vater war in seiner Jugend beim Reichsbund der Katholischen Jugend und in der Zeit der Vaterländischen Front (gegründet 1933) ein kleiner Geschäftsmann. 1935 heirateten er und meine Mutter. Als Gewerbetreibender war er natürlich in das lokale gesellschaftliche Leben eingebunden.
Einmal, am 10. März 1938, lud der Kirchenvater (heute etwa der Vorsitzende des Pfarrgemeinderates) ihn und andere zu sich ins Haus. Er hatte in der Tschechoslowakei eine Fabrik, die Bettwaren erzeugte. Während des Treffens wurde auch über die politische Situation gesprochen und mein Vater sagte unter anderem: "Jemand, der aus den Kirchen die Pfarrer vertreibt und darin Stallungen oder Lager einrichtet, so jemand ist nicht tragbar, der gehört angespuckt". Die Anwesenden waren alle aufrechte Katholiken, wahrscheinlich nickten 9 von 10 zustimmend, doch fand diese Bemerkung vom 10. März 1938 Eingang in des Vaters Akt. Die Quelle wahr mit hoher Wahrscheinlichkeit der Herr Konsul (der Kirchenvater), denn schon am 13. März 1938 zeigte er sich in einer Uniform mit Hakenkreuzarmband. Diese Eintragung führte offensichtlich zur Einschätzung als "politisch unzuverlässig" im Stammblatt.
Von dieser "Unzuverlässigkeit" wusste mit Sicherheit auch die Schule. Zu Weihnachten 1944 gab es für die Kinder der Vermissten oder Kriegsgefangenen Geschenke von der Nationalsozialistischen Partei, Ortsgruppe unter St. Veit. Die Mütter mussten mit ihren Kindern in das Parteilokal kommen (dort war später dann die KPÖ). Es gab Päckchen verschiedener Größe, meine Mutter bekam eines der kleinen. Zu Hause öffneten wir das Sackerl und darin befanden sich Figuren in der Art der Winterhilfsfiguren, zwei oder drei eingewickelte Zuckerln und ein paar unverpackte Keks. Das war die Weihnachtsgabe für politisch Unzuverlässige, die auch beschenkt werden mussten.
Ein großes Erlebnis war, als ich eines Tages im Geschäft meiner Eltern stand und die Leute beim Einkaufen beobachtete. Viel war nicht los, weil es ja nicht viel Ware gab. Ich erinnere mich an eine imposante Dame, deren Mann der Leiter einer Bankfiliale der Creditanstalt war, er bezeichnete sich "Bankvorstand". Diese Dame trug das NSDAP-Abzeichen auch auf der Bluse, möglicherweise abends sogar am Nachthemd.
Eines Tages, 1947 oder 1948, stehen die Leute zum Einkaufen im Geschäft und reden über jemanden. Es gab damals noch nicht viel, und alles war irgendwie gemütlicher, es gab jedenfalls keine Hetzjagd. "Na ja", sagte eine der Damen, "der ist dem Hitler sein Jahrgang gewesen." Der Herr, über den hier gesprochen wurde, dürfte knapp vorher gestorben sein. "Sagen's, Frau Klier, wie alt wäre der Hitler jetzt?" Frau Klier stand daneben, aber nun ohne Abzeichen. Sie antwortete: "Hitler? Für diesen Menschen habe ich mich nie interessiert!". Da lernt man das Verleugnen schon als Kind: "Schau an, wie das geht", dachte ich.
Wieder zurück zum Jahr 1945: Es kam ein sonniger, aber bitterkalter Sonntag. Im Detektor hörte man nur mehr alle zwei, drei Stunden irgendwelche Nachrichten. Wir hatten einen Detektor mit mehreren Hörern, fast ein Luxusgerät, und wir hörten irgend etwas von Durchhalten, von Hannibal, der über die Alpen zog. Es war der Statthalter, der die Situation mit Hannibal verglich. Das verstand ich damals natürlich nicht und wohl auch viele seiner anderen Hörer nicht, wer kannte damals schon den Hannibal?
Es lag eine gewisse Spannung über uns; es gab keine Bombenangriffe und keine Flugzeuge mehr. Vorher hatte man am Abend immer die Suchscheinwerfer den Himmel nach feindlichen Flugzeugen absuchen gesehen (Radar gab es noch keines, nur etwas Ähnliches, weniger Effizientes), aber auch diese waren verschwunden.
In der Gasse waren Soldaten, die markiges Reichsdeutsch sprachen und ganz junge Leute vom Volkssturm. Vorne auf der Hietzinger Hauptstraße sah ich Bewegung und ging wie viel andere "Schauen". Der 58er fuhr nur mehr im Pendelverkehr mit einem Waggon. Über die Hietzinger Brücke konnte er fahren, obwohl die Stadtbahnstation im Gleisbereich durch eine Bombe zerstört war, und er kam fast bis zur Babenbergerstraße. Auf der Hietzinger Hauptstraße an der Kreuzung zur St.-Veit-Gasse sah ich, wie einige Soldaten gemeinsam mit Helfern in Zivil (Leuten vom Volkssturm) einen Straßenbahnwaggon aus den Schienen heben und quer zur Fahrbahn stellen wollten. Es war furchtbar interessant, und ich erlebte zum ersten Mal, welche Kraft mit der Hebelwirkung ausgeübt werden konnte.
Es gab markige Kommandos, und ein neben uns stehender älterer zarter Herr – wegen der Kälte hielt er den Mantel vorne zusammengeschlagen – sagte: "Des wird die Russen a nimmer aufhalten!" Einer der Soldaten hörte das, drehte sich um, schrie den alten Mann an und griff nach der Pistole. "Das ist Hochverrat etc. etc." Während der Soldat schrie, öffnete der Mann seinen Mantel. Ein roter Kragen wurde sichtbar, es war ein alter Generalsmantel aus dem Ersten Weltkrieg. Er sagte: "Lieber junger Mann, ich war Österreichs erster Panzergeneral, ich weiß, was Panzer können, und das ist eine lächerliche Sperre". Daraufhin drehte sich General Redlich-Redensbruck um und ging unbehelligt weg. Als wir nach Hause gingen rannten einige mit Panzerfäusten durch die Gasse. Am Fenster hörten wir etwas über eine Verteidigungslinie schreien.
Am Abend flüchteten wir in den hauseigenen Keller. Wir hörten Schüsse und dann war Ruhe. Als wir hinaufgingen und beim Haustor hinaus lugten, merkten wir, dass es irgendwo kräftig brannte. Es handelte sich um die Moser-Villa. Die Villa war bombenbeschädigt. Hans Moser war zu seiner Schwester in Margarethen gezogen. Seine Frau war ja politisch verfolgt und in Ungarn. In Ungarn wurden die Juden im letzen Jahr genau so verfolgt, sie kam aber glimpflich davon.
In den letzten paar Tagen war in der Villa ein Benzin- und Munitionslager errichtet worden, wovon wir nichts wussten. Die Deutschen hatten sich offensichtlich mit Einbruch der Dunkelheit in Richtung Innenstadt zurückgezogen und bei dieser Gelegenheit das Benzinlager in der Moser-Villa in Brand geschossen. Es gab eine riesige Feuersäule, der Funkenflug hatte auch an einer anderen Stelle eine kleine Hütte in Brand gesteckt.
Wenn damals ein Wind gegangen wäre, hätte Unter St. Veit vermutlich genauso ausgesehen, wie es am Gürtel oder am Kai aussah. Von den Bombensplittern waren die Dächer sehr vieler Häuser beschädigt. Niemand hatte Eternitplatten oder Dachziegelsteine zum Ausbessern. Ich weiß von einem Schulkollegen, bei dem das Linoleum aus dem Vorzimmer geschnitten und damit das Dach provisorisch abgedichtet wurde. Ein Funke darauf hätte fürchterliche Auswirkungen haben können, möglicher Weise wäre die ganze Gegend abgebrannt.
Vis a vis im Kloster wohnte ein Geistlicher, mit dem wir uns verständigten, und der sagte: "Hoffentlich ist kein Wind, hoffentlich ist kein Wind!" Es gab auch einen jungen Mann, der war eigentlich Fahnenflüchtig, der hatte eine Feuerwehrausbildung und Schläuche und neben der Kirche war ein funktionierender Hydrant (das Wasser war da, nur die privaten Wasserleitungen waren zum Teil gedämmt). Er schloss vorsichthalber die Schläuche an.
Man wusste aber nicht, sind die Deutschen noch da oder schon die Russen. Wir gingen dann schlafen. Am nächsten Tag sah man an der Ecke St.-Veit-Gasse/Auhofstraße einen Toten aus der nächtlichen Schießerei liegen.
Als wir am Morgen des nächsten Tages, das war der 9. April und wieder ein sonniger Tag, aus dem Haus kamen, sahen wir im Vorgarten der Kirche neben uns ein weiß-schwarz geflecktes Pferd grasen und sonst nichts Ungewöhnliches. Man sah und hörte keinen deutschen Soldaten, einige Bewohner hatten an ihren Fenstern weiße Fahnen befestigt.
Dann hieß es: "Die Russen sind schon am Gürtel!" Wie wir heute wissen, kamen die Russen vom Lainzer Tiergarten herunter. Im Bereich der Friedensstadt SAT waren am Vormittag des 8. April von Haus zu Haus gegangen – dort waren Schrebergärten mit damals noch vorwiegend kleinen Hütten – und hatten versteckte Soldaten gesucht. Als sie sahen, dass keine Soldaten zu finden waren, sind sie relativ rasch noch in der Nacht weitergezogen. Am 8. April waren somit die Russen schon in Ober St. Veit und die Deutsche Wehrmacht noch in Unter St. Veit.
Zum Glück ist die Wehrmacht in der Nacht vom 8. auf den 9. April in Richtung Stadtzentrum abgezogen und die Russen konnten kampflos nachrücken. Die Zivilbevölkerung ließen sie weitestgehend unbehelligt. Die Russen waren im gesamten Hietzinger Bereich, vom Wienfluss bis zur Wittgensteinstraße, mehr oder minder moderat. Aber das haben wir alles erst später erfahren. Im Bereich der Hütteldorfer Straße, dort wo die vielen Zinshäuser sind, gingen sie von Haus zu Haus und von Wohnung zu Wohnung, suchten nach Verstecken und belästigten auch die Frauen. Nicht in jedem Haus, aber es kam vor. Im Hietzinger Bereich ist bis heute keine einzige Vergewaltigung aus diesen Tagen bekannt geworden.
Wir waren also gesegnet. Mit einer Verteidigungslinie wären ganze Striche im Bezirk zerschossen worden und mit Aufmärschen im Bereich Schönbrunn oder bei den Einfahrtsstraßen hätte sich noch viel mehr abspielen können. Da hatten wir im Vergleich zu anderen Regionen, wo gekämpft und Widerstand geleistet wurde, ein unwahrscheinliches Glück. Es ist nicht überall so glatt gelaufen, wie im Westen Wiens. Im 21. Bezirk wurde noch 10 Tage lang gekämpft, auch in einzelnen Teilen von Niederösterreich und in Wiener Neustadt wurde noch gekämpft. Wie gesagt, bei uns war bereits die Republik ausgerufen worden, als Graz noch bombardiert wurde.
Die ersten Tage nach der "Befreiung"
Als wir befreit waren, tauchten sofort Männer mit dem Sowjetstern auf roten Armbinden auf. Sofort gab es überall kommunistische Sprüche an den Hauswänden, "Sieg fürs Proletariat!" und dergleichen. Es gab Hunger, die Geschäfte hatten schon tagelang keine Ware, aber allmählich gab es irgend etwas zu Essen.
In der Auhofstraße gab es die Firma Wiesbauer, das war damals noch eine kleine Wurstfabrik, die hatte entsprechende technische Einrichtungen und wurde von den Russen gleich als Schlachthof requiriert. Bei der Schlachtung blieben gewisse Produkte über, die die Russen nicht wollten: das Blut, die Kaldaunen (Kutteln, Vormägen der Rinder), die Leber, das Herz, das Beuschl. Der Herr Wiesbauer, der damals wegen seines kriegswichtigen Betriebes vom Militärdienst freigestellt war, verkochte diese Nebenprodukte zu einer Blunzensuppe. Das Blut, das zerkleinerte Fleisch, etwas Gewürze und die separat mehrere Stunden gekochten Kaldaunen ergaben eine sehr nahrhafte Suppe. Am Eingangstor zur Fabrik in der Auhofstraße 25 stand dann auf einem Zettel: "Ab 14 Uhr Blunzensuppe".
Die Leute standen in Zehner-Reihen bis hinauf zur Volksschule in Unter St. Veit. Man musste die Lebensmittelkarte mithaben. Pro Lebensmittelkarte, auf deren Rückseite ein Stempel aufgedrückt wurde, gab es einen guten 1/4 Liter Suppe. Vor Jahren, zu Lebzeiten Frau Wiesbauers, fragte ich sie nach dem Preis der Suppe. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, aber sie vermutete 10 oder 20 Pfennige. Sie wusste nur mehr, dass sie das Kleingeld damals sackweise hatten. Das war jedenfalls eine wichtige erste Hilfe und wir hatten Glück, so einen Betrieb zu haben.
Dann begannen die Russen, Mehl an die Bäckereien auszuliefern. Natürlich war es nicht so, dass jeden Tag alles vorhanden war. In der Nacht war der Strom abgeschaltet, und die Betriebe hätten nur mit der Hand arbeiten können, waren aber alle personell unterbesetzt. Auch am Holz mangelte es oft. Bei unserem Bäcker vis a vis war nur der Inhaber mit seinen beiden 13-jährigen Söhnen da; die beiden Fremdarbeiter waren Anfang April abgezogen worden. Brot wird ja nur sehr gut, wenn der Teig lange und intensiv geknetet wird, so etwas dauert Stunden. Das Mehl wurde in der Nacht oder in der Früh angeliefert, Holz allfällig auch und damit konnte er einen Zettel an die Tür hängen, dass es ab 14 Uhr Brot gibt. Die Leute standen schon eine Stunde vorher mit den Lebensmittelkarten in der Hand vor dem Geschäft, und sie wussten nicht, wie viel sie tatsächlich bekommen werden. Wenn man drei Lebensmittelkarten hatte, hieß das noch lange nicht, dass man auch die dementsprechende Brotmenge bekam.
Der Bäcker hatte eine bestimmte Anzahl an Kunden, die bei ihm rayoniert waren (über die Rayonierung werde ich später erzählen), daher hatte er auch einen bestimmten Materialbedarf, den er dem Lieferanten meldete. Oft bekam er aber nur einen Teil des errechneten Bedarfs und konnte daher nur einen Teil des erforderlichen Brotes backen. Ich kann mich erinnern, mehrmals mit vier Lebensmittelkarten gestanden zu sein (für meine Großmutter, meine Mutter, meine Tante und für mich eine Kinderkarte) und ich bekam nur Brot für eine Karte. Das war dann nur ein Stückerl von einem ganz heißen Wecken. Die Kruste war eine Köstlichkeit, da habe ich beim nachhause Gehen immer ein Stück herunter gebrochen und schön langsam im Mund zergehen lassen.
Vor der Türe der Bäckerei stand ein KPÖ-Mensch und ließ immer nur drei Leute gleichzeitig ins Geschäft. Die Einzelpersonen waren bei diesem System bevorzugt. Bekam man z. B. pro Woche drei dag Öl, das wären für vier Leute 12 dag gewesen, so bekam man bei Knappheit vielleicht nur für zwei Karten das Öl, also 6 dag. Der Einzelpersonen wurden aber nicht nur ein oder zwei dag gegeben, die bekam die vollen drei dag vorsichtig in die mitgebrachte Flasche hinein gefüllt. Die Großfamilien waren benachteiligt, aber die Leute waren sich gegenseitig nichts neidig. Ich Nachhinein muss ich sagen, dass die Leute sehr gelöst waren, schließlich war der Krieg vorbei.
Doch gab noch viele Ungewissheiten: Wie geht es den Männern, die an der Front waren, wie geht es den Verwandten in anderen Teilen Österreichs. Man wusste das alles nicht. Der Postverkehr war eingestellt, Telefone gab es nur wenige und die blieben stumm. Selber hatte man überlebt und konnte mit den Leuten im Umkreis sprechen, und man war froh, irgend etwas zu hören. Wenn zum Beispiel jemand zu Fuß aus Schwechat gekommen war, so konnte er von dort und von unterwegs erzählen, von denen, die noch lebten und von anderen die tot waren.
Ab Mai gab es wieder Schulunterricht. Als wir wieder zur Schule gingen, mussten wir keine Schilder mehr umhängen, das war sehr befreiend. Die Fenster unserer Schule neben den jetzigen Museumstrakt waren mit Papier und Pappendeckel auf Holzstäbchen verklebt, die Fenster waren ja nach den Bombentreffern im Umkreis alle kaputt.
Die Lehrerin während der Kriegszeit war NSDAP-Mitglied, und wir hatten daher jetzt eine neue Lehrerin. Sie war eine über 60-jährige Dame, die von 1938 bis 1945 aus politischen Gründen nicht unterrichten durfte und in der Verwaltung tätig war. Dieser Lehrerin Stadler verdanken wir viel, sie machte alles das, was man sich heute von Lehrern wünscht, inkl. Nachhilfe. Das Erste, das wir damals lernten, war ein Gedicht: "Wir grüßen dich, mein Österreich, auf deinen neuen Pfaden ...". Weiß jemand, wie es weiterging?
Übrigens haben sich keine Schulhefte aus der Kriegszeit erhalten, und das hat einen bestimmten Grund: Wenn ein Schulheft ausgeschrieben war, musste es von der Direktion abgestempelt werden und mit dem gestempelten Heft bekam man in der Papierhandlung ein neues, falls eines vorrätig war. Daher gibt es aus dieser Zeit nur die nicht ausgeschriebenen Hefte. Ähnlich war es bei Schallplatten. Wenn man eine neue Schallplatte kaufen wollte, musste man eine alte in der gleichen Größe zurückgeben. Aus diesem Grund sind auch viele alte Schallplatten nicht erhalten.
In der Wustl-Villa auf der Hietzinger Straße waren Russen, und die hatten beim Eingang auf der Hietzinger Hauptstraße zwei russische Wachsoldaten. Wenn wir auf dem Heimweg von der Schule vorbeigingen, bekamen wir des Öfteren einen – wie man so schön sagt – Reanken von diesem russischen Maisbrot. Das war eine Köstlichkeit. Es war steinhart, aber wir haben es gelutscht von Hietzing bis nach Unter St. Veit. Zuhause waren wir noch immer nicht fertig, hatten aber das Gefühl, etwas gegessen zu haben.
Energieversorgung und öffentlicher Verkehr
Es gab nächtliche Ausgangssperren, und in den Wintern 1945/46 und 1946/47 – das waren ganz extreme Winter mit 35 cm Schnee an manchen Tagen, Schneepflüge gab es natürlich keine – wurde zeitweise der Strom abgeschaltet und der Eisenbahnverkehr stillgelegt, weil es keine Kohle gab.
Wir hatten zu Hause glücklicher Weise noch in den 1930er-Jahren geschlagenes Holz aus dem eigenen Wald. Das wurde von meiner Tante und meiner Mutter mangels anderer Helfer selbst mit der Hängesänge und Hacke zurechtgemacht. Kalt war uns damit gottseidank nie. Aber ohne Strom war es ungewohnt. Ohne elektrischer Beleuchtung saß man bei der Petroleumlampe. Im Winter wurde es zeitig finster und es waren noch Aufgaben zu schreiben. Man musste sich nahe zur Lampe setzten, mit einer Feder, die auf dem furchtbaren Papier so kratzte, dass alles gleich zerfloss. Es war recht mühsam, aber wir haben das als nicht so hart empfunden.
Natürlich war auch der öffentliche Verkehr durch die Kriegsereignisse beeinträchtigt. Die Stadtbahn konnte wegen der Bombenschäden in unserem Bereich nicht fahren. In der Station Hietzing war der Abgang vom Kaiserpavillon zerstört, die Gebäude der Stadtbahnstationen Braunschweiggasse und Unter St. Veit waren ebenfalls zerbombt. Der Schutt wurde mühevoll von Helfern weggeräumt, eine Holzstiege errichtet, und etwa ab Juni 1945 konnte die Stadtbahn wieder bis Hütteldorf fahren. Die Straßenbahnen 58 und 60 waren durch Bombentreffer nicht behindert, fuhren aber in der ersten Zeit nach Kriegsende nur hin und wieder.
Die Post funktionierte kaum, weil kein Poststück außerhalb des befreiten Sektors gehen durfte oder konnte.
Die Proklamation der Republik Österreich
Die Proklamation der Republik Österreich beschränkte sich in Wirklichkeit auf die damals von den Russen besetzten Gebiete: Wien, Niederösterreich, der Großteil des Burgenlandes, der nicht steirisch war (das Burgenland war ja aufgeteilt) und ein Zipferl von Oberösterreich. Das war von den Russen besetzt, und für diesen kleinen Staat wurde die Republik ausgerufen.
Es etablierten sich dann in den anderen Bundesländern lokale Regierungen und sowohl die Renner Administration als auch die Regierungen dieser Bereiche (Länder) bemühten sich in der Folge, Kontakt zu finden und das Renner-Regime sozusagen anzuerkennen. Das war wegen der Form der Besatzung nicht einfach, der Russe galt ja für die im Deutschen Reich aufgewachsenen als der größte Feind. Die Regierung in deren Bereich konnten ja nur Hampelmänner sein und man mutete es ihnen nicht zu, etwas vorwärts zu bringen.
Es ist dem Geschick der Leute in den einzelnen Bundesländern zu verdanken, dass sie es gemeinsam probieren wollten, auch dem Geschick der Renner-Regierung. Bei der Gründung war ja zur Ermöglichung des Aufbaues alles durch die drei Parteien Sozialdemokraten, Christlich-Soziale und Kommunisten paritätisch besetzt worden. Sukzessive sind dann die einzelnen Bundesländer beigetreten und dann – das war ja das heikle – haben die Amerikaner, die Franzosen und die Engländer die Proklamation vom 27. April 1945 anerkannt. Hätten sie die Anerkennung verweigert, wäre das nicht so leicht gewesen. Wir haben das am deutschen Beispiel gesehen, wo die Amerikaner die Proklamation in den einzelnen ostdeutschen Bundesländern nicht anerkannten und sich im Osten und im Westen ein eigener Staat bildete. Diese waren dann unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt. Es ist ja für uns fast unfassbar, dass in Deutschland heute noch amerikanische Soldaten stationiert sind. In den Landkreisen ihrer Stationierung wollen die Landeshauptleute daran aber nichts verändert haben, schließlich ist das auch mit zig-tausenden gut verdienenden Konsumenten verbunden.
Das große Problem nach Kriegsende war die Versorgung im Allgemeinen. Wegen des Kohlenmangels waren auch der Eisenbahnverkehr eingeschränkt. Die landwirtschaftlichen Produkte wurden immer weniger. Während des Dritten Reiches gab es Fremdarbeiter, die in den Umsturztagen vollständig verschwanden; sie gingen in ihre Heimat zurück, zum Teil wurden sie liquidiert. Die Arbeitsbevölkerung vom Land konnten nur teilweise zurückkommen, viele waren in Gefangenschaft, vermisst oder gefallen und es gab nur eine dünne Schicht von Leuten, die arbeiten konnte.
Das musste sich auf die landwirtschaftliche Produktion auswirken und führte letztlich im Jahr 1946 zu einer Hungersnot. Die Nahrungsmittel wurden immer weniger und weniger. Als die Ersten aus der amerikanischen, englischen oder französischen Gefangenschaft zurückkamen, konnten sie etwa im August 1946 nicht mehr viel Arbeit für die diesjährige Saison verrichten. Alle hatten einen verminderten Viehbestand und es blieb nur die Frage: Stechen wir die Sau ab oder lassen wir sie zu und bekommen im nächsten Jahr Ferkeln, nur wo sollen wir das Futter für die Ferkeln hernehmen? Es gab keine Vorräte mehr. Das war ein Teufelskreis.
Es gab aber die Lebensmittelrayonierung, und zwar schon ab September 1939. Ab dem gleichen Monat, in dem man in Polen einmarschierte, gab man in der Ostmark Lebensmittelkarten aus. Das war aber nichts Neues.
Im 1938er-Jahr kamen die Leute aus dem Altreich, alles Funktionäre und solche, die in Schulen etc. eingesetzt wurden, also "geeichte", die zum Teil Wohnungen von jüdischen oder christlich-sozial orientierten Menschen bezogen, die das Land Hals über Kopf verlassen hatten. Wir hatten eine Fleischhauerei und im Eiskeller immer mehrere Fässer mit Schmalz stehen – ich kannte noch drei dieser Fässer, die jeweils 250–280 Kg Schmalz fassten. Vis a vis war eine Glaswarenhandlung, die auch Geschirr verkaufte. Diese Deutschen kauften sich dort einen Kübel, einen emaillierten oder ein sogenanntes Windelhäfen, und ließen sich diesen mit Schmalz anfüllen, banden es oben zu und gingen zum Bahnhof in Penzing, wo man per Bahnpost etwas aufgeben konnte und schickten das Schmalz nach Deutschland. Das war das erste Mal seit dem Jahr 1910, erzählte meine Großmutter, damals hatten meine Großeltern die Fleischhauerei eröffnet, dass sie keinen Deka Schmalzvorrat hatten, weil alles aufgekauft wurde. Nur wenige in Österreich wussten, dass es in Deutschland bereits im März 1938 eine Lebensmittelrationierung gegeben hatte und z. B. keine Butter, sondern nur Margarine und dergleichen erhältlich waren.
Wir in der Ostmark hatten das erst ab dem 1939er-Jahr. Es gab Karten für Fleisch, Eier, Kartoffel, Kleider etc. Die Bezeichnungen dieser Karten waren unterschiedlich, sie hießen Ausweiskarte, Einkaufsschein, Reichskarte, Nährmittelkarte, Lebensmittelkarte, Grundkarte etc. oder waren nach den jeweiligen Produkten benannt, z. B. Brotkarte, Reichsfettkarte etc. Alles war mit riesigem Verwaltungsaufwand durchorganisiert. Die Hausfrauen führten kleine Mappen mit sich, in denen sie die zahlreichen Karten aufbewahrten. Man musste sich bei einem Einzelhändler anmelden, und der wusste dann, wir haben soviel Erwachsene, Kinder oder Schwerarbeiter, und davon hingen die Warenzuteilungen von den Großhändlern ab.
Im Folgenden können weitere Karten aus dem Jahr 1939 aufgerufen werden, unter anderem Reichsfett-, Reichsmarmeldade- und -zuckerkarten mit den darauf angeführten zustehenden Mengen, wenn diese verfügbar waren:
Zu den Lebensmittelkarten gab es auch Zusatzkarten für Kleinstkinder, für Kleinkinder, für Kinder, üblich war der Normalverbraucher, sowie für Angestellte, Arbeiter und Schwerstarbeiter. Es gab einen Beschäftigungsausweis mit einer Zahl für die Berufsgruppe und einer weiteren Zahl. Aufgrund dieser beiden Zahlen wurde die Art der Zuschlagskarte ermittelt.
(Bild kommt: Die Kopie einer Karte für einen Angestellten der Alpine Montangesellschaft, der bekam eine Zuschlagsgarte als Angestellter und erhielt damit ein bisschen, aber nicht sehr viel. Weiters eine Zusatzkarte für einen Schwerarbeiter, darauf gab es nur Zahlen, und auf die eine oder andere Zahl bekam man in dem Bereich das oder jenes Produkt.)
Es gab auch Kartoffelkarten für das "Einlagern". Die Einlagerkartoffeln gab es im Herbst und es war wichtig, diese zu bekommen. Wir wissen, wenn man heute welche kauft, fangen sie in 14 Tagen an auszuwachsen. Damals gab es gottseidank noch kalte Keller, aber die Kartoffel hielten sich trotzdem nur einige Zeit. Wenn man im Jänner oder Februar in den Kartoffelkeller ging, nahm man nur diejenigen, die angefangen hatten, auszuwachsen. Die Kartoffel braucht kein Licht zum Wachsen, sie braucht nur Luftfeuchtigkeit, und wenn sie auswächst, ist die Qualität dahin.
Nach 1945 wurde Wien in Sektoren aufgeteilt. Die Amerikaner hatten den 7., 8., 9., 17., 18. und 19. Bezirk, die Engländer den 3., 5., 11., 12. und 13. Bezirk, die Franzosen den 6., 14., 15. und 16. und die Russen den 2., 4., 10., 20. und 21. Bezirk. Der 22. Bezirk war damals noch beim 21. Bezirk bzw. bei Niederösterreich. Jeder Sektor hatte ungefähr gleich viel Bewohner, ca. 25 bis 26 % der Gesamtbevölkerung Wiens. Allerdings waren sämtliche Industriebetriebe in der russischen Zone, mit Ausnahme kleinerer Betriebe wie Winkler & Schindler in Ober St. Veit. Die bedeutenden Betriebe waren alle im 10., 20. und 21. Bezirk, darauf hatten die Russen die Hand drauf. Den 1. Bezirk hatten alle vier gemeinsam, wir kennen die berühmten "Vier im Jeep".
Wenn es nun Lebensmittelaufrufe gab, war es nicht sicher, dass man diese Waren auch in jeder Zone bekam. Die Lebensmittelgeneralverteilung machten die Besatzungsmächte und da konnte es zu Unterschieden kommen. Corned Beef gab es z. B. nur in der amerikanischen Zone, Sojaflocken gab es nur in der englischen Zone. In der französischen Zone war es am schlechtesten, das war die ärmste Kriegsmacht und sie sind ja erst im Nachhinein gekommen; die französischen Soldaten waren auch selbst am schlechtesten dran. So konnte man sagen, ich wohne in der Nisselgasse, melde mich aber in einem Geschäft in Hietzing an.
Das ging dann ein paar Monate gut, aber dann begann es bei der Besatzung zu blinken und es wurden Lebensmittelkarten mit dem Vermerk der Zone herausgegeben. Nun mussten Wohnadresse und der Kaufmann, bei dem man gemeldet war, in der selben Zone sein. Für die Leute war das gewöhnungsbedürftig, weil man sich ansonsten in Wien relativ frei bewegen konnte.
Hier können einige Karten für die Zeit ab dem Jahr 1945 aufgerufen werden:
Auf Grund eines Aufrufes auf eine der Nummern auf den Lebensmittelkarten (in der Zeitung am Samstag oder Sonntag wurde das meist veröffentlich) wusste man von der Verfügbarkeit eines bestimmten Produktes, z. B. 15 dag Zucker pro Erwachsenen, das man dann beim Greißler kaufen konnte. Beim Kauf wurde die entsprechende Nummer auf der Ausweiskarte abgeschnitten. Allerdings konnte die Zuteilung vom Großhändler an den Einzelhändler auch geringer als angekündigt ausfallen, und damit alle etwas bekommen, wurde jedem Verbraucher nur eine anteilige Menge verkauft.
Hier ein Beispiel eines Lebensmittelaufrufes. Er galt für die Woche vom 12. bis 18. Mai 1947.
Es gab unter anderem 18 dag eines sogenanntes Konsummehls, das hatte die Konsistenz von Mehl, spielte aber sämtliche Farben und stammte sicher von einem nicht ganz von der Spreu befreiten und grob samt der Kleie vermahlenen Korn, aber mit 18 dag konnte man etwas anfangen. Der Aufruf enthielt auch Schmalz. Das Schmalz befand sich in mit Packpapier ausgekleideten Kisten, war steinhart und musste wie türkischer Honig heruntergeschabt werden. Die Marmelade war ebenfalls in Kisten, es waren wohl viel Karotten oder Rüben dabei gewesen sein, und sie schmeckte ein wenig nach Zwetschken oder Erdbeeren oder nach Äpfeln, aber sie war süß. Viele von Ihnen werden noch eine solche Marmelade in Erinnerung haben. Der Zucker war noch rar und erzielte im Schleichhandel enorme Preise, vom Honig gar nicht zu reden. Dann gab es 5 dag Hülsenfrüchte. Was konnte man mit 5 dag Hülsenfrüchte pro Woche anfangen?
Für diese Woche gab es keinen Fleischaufruf. Sehr oft wurden aber Pferdefleisch oder Corned-Beef-Konserven aufgerufen. Ich kann mich erinnern, wir bekamen damals viereckige, leicht stapelbare Blechdosen, jede ca. 12–14 Kg schwer. Diese musste wir aufmachen und das Pferdefleisch, das gulaschartig gekocht und zerkleinert aber nicht gewürzt war bzw. das Corned Beef den Leuten in ihre mitgebrachten Häferln, Reindln oder Schüsseln geben. Das damals verfügbare Papier wäre viel zu schlecht zum Einpacken gewesen. Das Gefäß wurde auf die Neigungswage gestellt, die Tara berücksichtigt und dann das jeweilige Gewicht eingewogen.
Milch gab es in manchen Wochen gerade nur für die werdenden und stillenden Mütter, nicht für die Kleinstkinder. Für die Kleinstkinder gab es in manchen Wochen überhaupt nichts Separates. Die manchmal aufgerufenen Trockenerdäpfel-Erzeugnisse waren damals überhaupt nicht beliebt. Das waren praktisch Kartoffelchips, allerdings schmeckten sie furchtbar ranzig. Sie mussten Jahre alt gewesen sein, aber eine Ablauffrist gab es damals nicht. Der Aufruf war immer so berechnet, dass sich für einen Normalverbraucher ein Wert von etwa 1500 Kalorien ergab. Praktisch wurde das aber nie erreicht, weil immer irgend etwas fehlte.
Hier kann ein Zeitungsbericht vom 26. Mai 1945, unter anderem mit Meldungen zur Versorgung in Wien, aufgerufen werden:
Für den Lebensmittelbetrieb war das mühselig: Die relativ kleinen Marken mussten ausgeschnitten werden, nach Zahlen bzw. Produkt sortiert und auf Papier aufgeklebt werden. Da es kein Papier gab, wurden meist Zeitungsbogen verwendet.
Ein Mal pro Monat musste der Kleinhändler zur Abrechnungsstelle abrechnen gehen. Ich kann mich erinnern, eine der für uns zuständigen Abrechnungsstellen war in der Volksschule in Lainz. Drinnen saßen die Beamtinnen und die Leute saßen draußen und warteten, bis sie drankamen. Die Beamtin zählte dann die Marken auf dem Papierbogen, z. B. 278 Marken zu 125 Gramm sind soundsoviel Kilo und überprüfte, ob die gelieferten und die abgerechneten Mengen übereinstimmten. Dann wurde das akzeptiert, und man musste noch etwas bezahlen. Dann wurde das Ganze durch eine Rolle gezogen und perforiert, das war für mich als Kind das Faszinierendste. Vorher sortierte und klebte man stundenlang und dann wurde das mit einem Schwung vernichtet. Jedenfalls war die Prozedur ganz streng.
So, und wie konnten die Leute satt werden? Man hatte schon während des Krieges jede freie Fläche landwirtschaftlich genutzt. Die Grünfläche in Wohnhausanlagen, wie zum Beispiel in der Fleschgasse, hatte man als Grabeland aufgeteilt, jeder bekam ein, zwei Beete und er konnte sich dort etwas anbauen und damit den Speisezettel auffetten.
Die Leute hatten auch nach Möglichkeit begonnen, Hasen zu züchten. Die Großeltern meiner Frau wohnten in der Fockygasse und hatten im zweiten Stock im Vorzimmer Hasenstallungen. Die Gegend war weniger dicht verbaut und auch in den Bombentrichtern, wuchs gleich irgend ein Gras oder Zichorie, das Ernähren dieser Tiere war also relativ leicht. Im Fensterkasten konnte man Karotten anbauen, die man allerdings manchmal nicht selbst aß sondern den Hasen gab und sich auf den Braten freute.
Der Balg der Hasen wurde umgedreht mit Zeitungspapier oder Stroh ausgestopft und getrocknet. Mit diesen ging man dann z. B. in die Altgasse, wo es einen Huterer gab. Ich selbst war dort nicht einmal mit einem Dutzend Hasenbälgen und bekam dafür – ohne Kleiderkarte – eine Kappe aus einem furchtbaren Stoff, beim zweiten Regen hing der mit gewöhnlichem Pappendeckel gefütterte Schirm herunter. Alles, was verwendbar war, wurde einer Verwendung zugeführt.
Interessant ist auch, dass es damals keine Nachbarschaftsprobleme oder Diebstähle gab. Niemand vergriff sich am nicht eingezäunten kleinen Beet. Das war vielleicht noch eine Folge der extrem strengen Gesetze, die es im Deutschen Reich gegeben hatte, vielleicht war es auch die Einstellung der Leute: Wir wollen alle miteinander davonkommen und überleben, wir haben schon soviel mitgemacht, das werden wir auch noch schaffen.
Die Ausspeisungen in Kindergärten und Schulen
In den Kindergärten und Volksschulen gab es eine Ausspeisung. Die Kindergärten wurden von den Schweden betreut und hatten eine exzellente Ausspeisung. Bei uns in der Schule gab es einmal in der Woche einen Wasserkakao, den wir gerne schlemperten und zweimal in der Woche etwas reisfleischartiges ohne Reis; es war pappig und wurde im Mund immer mehr. Nach dem Ende des Unterrichts wurden die Wärmekübel hereingetragen und das Essen von der Lehrerin ausgegeben. Wenn wir brav aufgegessen hatten, durften wir nach Hause gehen.
Zur Ernährungssicherheit – wir waren ja praktisch alle unterernährt – gab es auch noch den Lebertran. Das werde ich nie vergessen: Wir mussten uns bei der Frau Lehrerin am Podium aufstellen, jeder hatte einen mitgebrachten Löffel in der Hand, die Frau Lehrerin ging von einem zum anderen und goss Lebertran in den Löffel. Die ersten paar Male schluckten einige den Lebertran und gingen gleich, wie es auf Wienerisch so schön heißt, speiben. Das Fette vertrug man ja damals nicht und außerdem war der Lebertran von einer Qualität, mit der man heute Lederschuhe einlassen würde. Der war wirklich "gereift". Wir durften dann Salz mitbringen, nur kann Fett das Salz nicht auflösen ...
Jedenfalls mussten wir eines schönen Tages einen Zettel schreiben: "Es ist möglich, Lebertran für nach Hause zu bekommen. Wer das haben will, soll mit einer gut verschließbaren Flasche kommen". Ich sehe meine Großmutter heute noch, wie sie mit Sandpapier einen Korken passend für eine Bierflasche schliff. Mit der Flasche ging ich in die Schule und der Löffel nachmittags war ein Pflichtlöffel: "Hast du schon deinen Lebertran genommen?". Das war eine von den Hilfen, die es damals gab.
Wir hatten Verwandte in Kollnbrunn, meine andere Großmutter war in Bruck an der Leitha zu Hause. Als uns dies wieder möglich war, fuhren wir per Straßenbahn nach Floridsdorf und mit einem offenen LKW weiter bis Kollnbrunn.
Meine Großmutter hatte etliches mit zum Tauschen. Die Verwandten hatten eine Landwirtschaft und vielleicht konnte man ein paar Eier oder etwas anderes bekommen. Ein paar Tage vorher sah ich meine Großmutter aus einem alten Telefonbuch Seiten herausreißen, daraus Stanitzeln machen und die Stecknadeln aus der Bossi-Fabrik hinein füllen. In jedes wog sie nicht ganz zwei Dekagramm, so erzählte sie mir Jahre später und damit bekamen die Stecknadeln ihren Wert. Sie brachte rd. 20–25 Packerl Stecknadeln zu den Verwandten in Niederösterreich und wir kamen mit Getreide für die Hühner, mit Haferflocken und Gries nach Hause. Eier bekamen wir nicht, denn es gab noch keine Eierkartons und wir hätten sie vielleicht zerdrückt.
Beim zweiten Mal nahmen wir eine Milchkanne mit und die bekamen wir von der Tante mit Eiern angefüllt und oben mit Heu ausgetopft. Das konnten wir bei den Russen vorbeibringen, wurde doch an der Stadtgrenze kontrolliert und die Passagiere wurden "entlaust". Auch diese Sachen halfen uns sehr. Einmal, als wir wieder draußen waren, fragte die Tante: "Marie, hast du noch Stecknadeln?" "Nein, die Stecknadeln sind alle aus!" Alles half. Das Bargeld war sehr wenig, und die Kleinrentner hatten nicht einmal das Geld für die rayonierten Lebensmittel.
In der russischen Zone war auf ganz einfachem Papier gedruckt: "Republik Österreich, eine Reichsmark, Nachahmungen dieser Note werden gerichtlich bestraft" und auf der Rückseite: "Diese Banknote gilt bis 31. Dezember 1945".
Es kam zu einer Übersättigung an Geld. Die Leute hatten Geld, konnten aber nichts kaufen, weil es nichts gab. Damit ergab sich die währungspolitische Notwendigkeit einer Währungsreform. Die Erste gab es Ende 1945, da konnte man vom 13. bis 20. Dezember 1945 alle reichsdeutschen Banknoten gegen Schilling tauschen, eine Mark gegen einen Schilling. Man durfte nur 150 Mark wechseln, der Rest wurde auf ein Sperrkonto geschrieben und war nicht verwendbar. Die Münzen blieben und galten weiter. Es gab die ersten Schillingmünzen bzw. die ersten Papier-Zehner mit dem Wachauer Mädchen, das wir dann auch auf den Münzen hatten. 1947 gab es die nächste Umtauschregulierung, 150 Schilling konnten 1:1 getauscht werden, der Rest 3:1. Damals wurden auch die Reichspfennig-Münzen eingezogen. Den Geldtausch machte man auf der Post oder in einer der wenigen Bankfilialen.
Viele Menschen waren damals noch vermisst, man wusste nicht, was los war. Wir wussten von unserem Vater nur, dass er seit der Invasion im September 1944 als vermisst galt. Das Erste, was war dann von ihm hörten, war eine Zuschrift von Radio Graz. Die Rundfunkerfassungsstelle des Bayrischen Roten Kreuzes hatte Grüße von Kriegsgefangenen im Radio Graz durchgesagt und gleichzeitig eine kurze Verständigung geschickt. Diese kam auf einem ganz schlechten, dünnen Papier: "Franz Steinwandtner grüßt seine Angehörigen Maria und Felix, englische Kriegsgefangenschaft laut Rundfunksender in Graz". Das war im Juni 1946, dann gab es bald die erste Briefpost, also wussten wir 22 Monate lang nicht, ob er noch lebte.
Hietzing war englisch besetzt und die englische Besatzungsmacht hatte die Kommandozentrale im Parkhotel. Im Schloss Schönbrunn regierte der Hochkommissar und in Ober St. Veit hatten sie eine Villa.
Zu Weihnachten wurden wir in offene LKWs gepfercht – damals gab es noch keine Sicherheitsvorschriften – und in die Fasangartenkaserne zu einem dieser großen Esssäle geführt. Dort gab es eine Weihnachtsfeier und wir bekamen Kakao, Kekse und ein kleines Sackerl zum Mitnehmen. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich "Jingle-Bells". Auch bei den Amerikanern gab es das.
Dann begann sich das Leben wieder allmählich zu normalisieren. Es gab wieder Kinos, die Kinder durften natürlich nicht hinein. Die Vorstellungen waren zunächst allerdings nur nachmittags, weil am Abend gab es keinen Strom. Das waren einprägsame Jahre, und wir Kinder spürten, dass es jetzt wieder besser geht. Es gab wieder öfters einen Kuchen und schön langsam kam das Ganze ins Rollen.
Die Rayonierung wurde dann sukzessive von ca. 1948 (zuerst das Brot) bis ca. 1950 wieder aufgehoben.