Kindheitserinnerungen an ein ländliches Ober St. Veit
"damit es nicht verloren geht ..."
28.07.2010
1946 wurde ich im Hietzinger Bezirksteil Ober St. Veit in eine bäuerliche Großfamilie geboren. In dieser Ansiedlung am Stadtrand Wiens gab es damals noch mindestens sechs landwirtschaftliche Betriebe, von denen heute kein einziger mehr existiert. Wir hielten damals Rinder, Pferde und Schweine. Diesen Tieren und den Menschen von damals möchte ich mit diesen Zeilen ein Denkmal setzen. Sie haben meine frühe Kindheit in den 1950er-Jahren begleitet und geprägt und mir einen Schatz unvergesslicher Erinnerungen hinterlassen. Es ist zwar erst ein paar Jahrzehnte her, doch heute wirkt manches schon so exotisch, als wäre es vor Jahrhunderten geschehen oder ein Bericht aus der Dritten Welt.
Als ich noch im Gitterbett lag, legte mir mein Vater statt eines Teddys ein neugeborenes Ferkerl zu den Füßen. Ich war über das mit feuchtem Rüssel an mir herumschnüffelnde, grunzende kleine Vieh zunächst natürlich sehr erschrocken, ebenso dürfte auch das Schweinderl einigermaßen irritiert gewesen sein. Mit dem "Abferkeln" (der Geburt der Ferkeln) war übrigens stets das Risiko verbunden, dass die Sau ihre Neugeborenen erdrückt. Daher musste meine Mutter, die an sich im Dorotheum beschäftigt war, zur Entlastung meines Vaters auf einem Liegestuhl im Schweinestall übernachten, um dies zu verhindern. Auch sonst gab es mit den Schweindln, die ja sehr intelligente Tiere sind, immer wieder Überraschungen. Einmal kam uns eine Horde von Jungschweinen aus und rannte hakenschlagend über die Hietzinger Hauptstraße. Sie wieder einzufangen war ein Kunststück! Heute hätte dies einen riesigen Verkehrsstau zur Folge. Das Schweineschlachten für den Hausgebrauch erfolgte im Hof und war für mich jedesmal ein sehr eindrucksvolles Ereignis.
Die ungefähr 60 Rinder, die wir im Stall hatten, wurden "hintaus" über die damals noch nicht durchgehend verbaute Trazerberggasse auf die Weide am Roten Berg getrieben. Dabei kam die Verdauung der Tiere in Gang, und es ging mit Vorliebe auf dem Gehsteig "platsch, platsch". Heute wäre das eine Katastrophe, aber damals eilten die Kleingärtner mit Kübeln herbei, um den wertvollen Dünger einzusammeln. Die Kalberln führte ich oft – wie heute jemand seinen Hund – über die Hietzinger Hauptstraße auf den Roten Berg, der damals noch mit schönen Futterwiesen und Feldern bedeckt war. Bei schweren Rindergeburten wurden von der damals gegenüberliegenden Feuerwache Helfer zum „Ziehen“ am Kalb geholt. Wenn wir von irgendwo her Kälber oder Ferkeln geholt haben, wurden diese Tiere mit unserem alten VW (Baujahr 1949) befördert und dafür sämtliche Sitze, außer dem des Fahrers, ausgebaut.
Unsere beiden Pferde waren der Noriker Maxl und der Haflinger Loiperl. Sie waren pflastergewohnte "Stadtpferde", denn bis zur Anschaffung eines Traktors wurde mit ihrer Hilfe die Milch in ganz Wien ausgeliefert.
Dann hatten wir neben Hühnern noch einen riesigen Truthahn, den "Pek-Pek", der sich über sein Spiegelbild fürchterlich erregen konnte und uns Kindern häufig Angst einjagte. Alle diese Tiere machten natürlich gehörig Mist, und daher hatten wir im Hof Hietzinger Hauptstraße 143 einen großen Misthaufen (das "Bauerngold"), der zu unserem Spielbereich gehörte. Am aufgelegten Brett ließ es sich wunderbar hutschen, und einmal purzelte ich mit meinem weißen Sonntagsgewand in die Jauche. Wir bewarfen uns auch gerne mit Rossknödeln. Am Hof waren wir unser vier (meine Cousins Thomas und Michael sowie Cousine Trixi und ich), doch kamen oft Spielkameraden aus der Nachbarschaft, weil es bei uns am lustigsten war. Unser Lieblingsspiel war "Versteckerln", wofür ein Bauernhof die vielfältigsten Möglichkeiten bot.
Die Volksschule lag schon damals genau gegenüber unserem Hof, sodass ich vom Klassenzimmer aus das Geschehen beobachten konnte. Ich war stets besorgt, man könnte ohne mich ausfahren und mir könnte etwas entgehen. In den 1950er-Jahren hatten wir auf unseren ca. 16 ha landwirtschaftlicher Fläche auch Gerste, Rüben und Erdäpfel. Einmal im Herbst forderte mich die unvergessliche Frau Lehrerin Hrdlitschka auf, Proben unserer Feldfrüchte bzw. Kulturpflanzen mit in die Schule zu bringen, damit die Stadtkinder eine Vorstellung davon bekämen. Gelegentlich gab es auch einen Klassenbesuch im Stall, wo die Kinder u. a. über die herumhuschenden Ratten und Mäuse staunten. Manche dachten, es handle sich um junge Eichkatzerln. Der ehemalige Stall beherbergt heute eine Kinderarztpraxis und eine Ergotherapie.
Bargeld war damals (wie oft auch heute noch) auf Bauernhöfen stets knapp. Eine der wenigen regelmäßigen Einnahmsquellen war die Milch. Da es nach dem Zweiten Weltkrieg noch längst keine zentrale Milchversorgung durch Molkereien gab, holten sich die Leute ihre Milch mit der Kandl direkt von unserem Hof. Manche beschwerten sich, dass die Milch so teuer sei, doch war ein Liter Milch billiger als eine Flasche chemisches "Kracherl"! Schon damals wurden die hochwertigen bäuerlichen Erzeugnisse von machen Konsumenten gering geachtet. Einen Teil der Milch führten wir frühmorgens in die Stadt zu Kranken- und Kaffeehäusern, zuerst mit dem Pferdewagen, später mit dem Steyr-Traktor. Unter anderem belieferten wir das berühmte Café Eiles. Mitfahren zu dürfen, war für mich immer ein Erlebnis. Später wurde die Milch zur NÖ Molkerei gebracht. Ich kann mich auch an weitere Fuhren erinnern, z. B. zur Ottakringer Brauerei, um Trebern als Futtermittel zu holen, oder zu einer Mühle in Kaltenleutgeben, um unser Getreide malen zu lassen. Damals – ich war vielleicht 10 Jahre alt – hat mich mein Vater mitunter am Gürtel (!) den Traktor samt Anhänger chauffieren lassen. Unser Ziel war der Frachtenbahnhof am Südbahnhof. Dort sah ich die ersten Bananen meines Lebens, deren Abfälle wir kübelweise mit heim nehmen durften. Wenn wir – was damals häufig vorkam – wegen Bargeldmangels Steuerschulden hatten, kam der Exekutor und drückte ein "Pickerl" auf die Tiere, um sie zu pfänden. Doch gleich danach holte der Fleischhauer Figl aus dem 14. Bezirk diese Tiere „illegal“ ab, sodass wir mit dem Erlös unsere Schuld begleichen konnten – jedesmal eine Zitterpartie.
Ein Bauernhof war damals ein weitgehend "offenes Haus", wo die verschiedensten Typen ein und aus gingen. Hund hatten wir zu meiner Zeit keinen, doch unser Entenpärchen "Zwetschgerl und Zwutschgerl" kündete jeweils mit lautem Geschnatter das Eintreten fremder Leute an. Das waren unsere Milchkunden, es gab aber auch noch zahlreiche wandernde Musikanten (z. B. einen buckligen Harmonikaspieler), Scheren- und Messerschleifer, Hausierer und Bettler und nicht zu vergessen den "Hådamã", der Leinwandfetzen für die Papiererzeugung sammelte und noch bis in die 1960er-Jahre laut ausrufend durch Ober St. Veit ging. Auch an unseren Wachmann kann ich mich genau erinnern, rund wie ein Fassl, mit einer ständig rotblauen Nase. Einmal fragte ich meinen Vater in Anwesenheit dieses Herren, warum er eine so leuchtende Nase habe. Weil er viel in der Kälte draußen sein müsse, antwortete mein Vater verlegen. Bei der damaligen bescheidenen Kriminalitätsrate reichte dieser "Herr Wachmann" für unsere Sicherheit jedoch völlig aus. Die Wachstube war Ecke Hietzinger Hauptstraße/Testarellogasse.
Unsere "Hausleute" waren damals recht zahlreich: meine Eltern, die Familie meines ebenfalls am Hof arbeitenden Onkels, eine unverheiratete Tante, wir vier Kinder und vier Dienstboten (zwei weibliche und zwei männliche). Eine davon, die Kathi, war ledig und über 60 Jahre bei uns im Haus. Sie hat uns Kinder praktisch großgezogen, da unsere Mütter erwerbstätig waren. Von dieser Kathi ("Dada"), die selbst herzlich wenig Geld besaß, erhielten wir Kinder regelmäßig (!) einen Sonntagsschilling, damals gar nicht so wenig. Die Kathi und die ebenfalls ledige Tante Mitzi mussten täglich für 10 Personen das Essen auf den Tisch bringen und alle übrigen hauswirtschaftlichen Arbeiten leisten. Sogar die Nudeln und das Brot wurden damals selbst hergestellt. Mit der Kathi durften wir im Sommer für 14 Tage nach Kirchstetten an der Westbahn "in den Urlaub" fahren. Dort war die Heimat meiner Großmutter, mein Großvater stammte aus dem Tiroler Zillertal.
Hinsichtlich der "sanitären" Einrichtungen waren wird damals in den 1950er-Jahren schon sehr "fortschrittlich". Wir hatten eine Badewanne (für alle) sowie zwei getrennte Klos für Männlein und Weiblein, allerdings ohne Wasserspülung ("Plumpsklos"). Eines davon, das möglicherweise letzte Wiens, steht quasi "unter Denkmalschutz" und kann heute noch besichtigt werden.
Ein Ereignis ist mir deutlich in Erinnerung geblieben: Ich gehöre vermutlich zu den wenigen Leuten, die einen echten Kugelblitz gesehen und während längerer Zeit angstvoll beobachtet haben. Eine gefährliche Situation, da ich – eine Wasserkanne in der Hand – nur zwei Ackerfurchen von dem dahinrollenden Blitz entfernt stand. An der Stelle steht heute ein stattlicher Wald – so rasch ändern sich die Verhältnisse.
Insgesamt hatte ich eine erlebnisreiche Kindheit. Abschließend noch weitere Erinnerungen an das "einfache Leben" von damals:
- Eine Glocke rief alle zum Essen.
- Die große Tischgemeinschaft betete kurz.
- Es gab noch keine elektrischen Kühleinrichtungen, die Eier wurden im Wasserglas eingelegt (die Hühner legten damals hauptsächlich im Frühjahr und Frühsommer), Wurzelgemüse wurde in Sand einschlagen, Wurst, Geselchtes und Schmalz wurde nach der Hausschlachtung selbst gemacht, die Butter mehrmals wöchentlich im Butterfassl ...
- Die Schweine bekamen Erdäpfel und Küchenabfälle, auch aus der Kantine des damaligen Gräf & Stift-Werkes in Ober-St. Veit.
- Zwillingsgeburten bei Kühen waren selten und daher jedesmal ein besonderes Ereignis.
- Manche Kälber kamen mit dem Euter der Mutter nicht zurecht und mussten mit dem Flascherl von Hand aufgezogen werden.
- Meine kindlichen Handmelkversuche waren wenig erfolgreich.
- Die Handmahd der Wiesen erforderte das kunstreiche Dengeln der Sensen mit dem Spezialhammer auf dem Dengelstock.
- Das Heueinführen mit dem Pferdewagen auf der Leiten (am Berghang), z. B. am Roten Berg, war keine einfache Sache. Die Fuder (Wagenladung) musste streng symmetrisch sein, um nicht umzustürzen und wurde mit dem schweren Wiesbaum niedergebunden.
- Im Haus Nr. 143 steht heute noch eine Statue unseres Schutzpatrons, des Hl. Josef. Er kennt unsere Sorgen und Anliegen von damals bis heute.
- Beim Tod eines Papstes oder Bischofs wurden von unseren männlichen Hausleuten die Ober St. Veiter Kirchenglocken stundenlang geleutet.