Die totale Schizophrenie
Sparen = Wirtschaftskrise
19.03.2010
Die Stimmen, die die Gefährdung der Erde durch das Konsumverhalten der Menschen feststellen, häufen sich. Jüngste prominente Stimme ist der aktuelle Bericht "Zur Lage der Welt 2010" des renommierten Worldwatch Institute in Washington: "From Consumerism to Sustainability". 60 bekannte Forscher und Praktiker beschreiben darin, wie unsere Kultur in Richtung Nachhaltigkeit verändert werden kann. Die deutsche in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch erstellte Ausgabe wurde jüngst in Berlin vorgestellt.
In den einleitenden Beiträgen wird der exzessive Konsum für die Zerstörung der globalen Ökosysteme mitverantwortlich gemacht und anhand von statistischen Eckdaten das Ausmaß dieser Überbeanspruchung vor Augen geführt. Z. B. hat sich der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum in den letzten 30 Jahren verdreifacht und könnte die Erde einen Lebensstil nach amerikanischem Muster nur für 1,4 Milliarden Menschen nachhaltig ermöglichen. Tatsächlich leben auf ihr derzeit 6,8 Milliarden Menschen, die dieses konsumorientierte Modell sukzessive übernehmen. Jedenfalls wird der Schluss gezogen, dass umweltfreundliche Technologien und staatliche Maßnahmen nicht mehr ausreichen, um einen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation zu verhindern. Ein Paradigmenwechsel vom Konsum zur Nachhaltigkeit wird gefordert.
In dem Bericht werden zahlreiche Anregungen und bereits etablierte Beispiele für den Weg zu einer Nachhaltigkeit angeführt. Im Wesentlichen geht es dabei um die Abkehr vom tief verankerten Konsumverhalten hin zur Maxime der Nachhaltigkeit jeder Handlung – und das bei gleichzeitiger Steigerung des persönlichen Wohlbefindens.
Man kann es aber drehen und wenden wie man will, bei all diesen Vorschlägen resultiert die Schonung der Umwelt vor allem aus Konsumverzicht, und trotz ebenfalls immanenter wirtschaftsstimulierender Elemente ist damit eines unausweichlich: der Zusammenbruch unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems. Dies, und letztendlich auch das Versagen unserer Wirtschaftswissenschaften wird in dem Bericht des Worldwatch Institute jedoch nicht thematisiert.
Angesichts der vitalen Bedrohungen ist die Inaktivität oder die Scheinaktivitäten der Verantwortlichen eine grobe Fahrlässigkeit. Alle, die zu entschlossenem Auftreten berufen sind, scheinen unter einer tiefgehenden Bewusstseinsspaltung zu leiden. Egal ob Journalist, Kleriker, Politiker, Wirtschaftskapitän oder Wirtschaftsforscher, sie alle sprechen vom drohenden Klimawandel und im selben Atemzug vom zarten Pflänzchen des wirtschaftlichen Aufschwungs, der durch nichts Konsumfeindliches gefährdet werden darf! Ein Kolumnist des Profil (Nr. 11, Seite 69) stilisiert deutsche Sparsamkeit, Genügsamkeit und Disziplin sogar zum Hindernis der europäischen Entwicklung; auch die Österreicher sollten mehr konsumieren! Selbst vor der nächsten Tischkante sollte eine bessere Erkenntnis lauern.
Was nährt diese Schizophrenie? Menschliche Eigenschaften wie Bequemlichkeit, Egoismus, Gedankenlosigkeit oder sogar Zynismus können genannt werden, aber auch Gegebenheiten wie die weitreichende Überschuldung, die nur in Wachstumsszenarien beherrschbar ist. Besonders gefährlich erscheint ein Faktor: die Hoffnung. Die Hoffnung, dass alles nicht so schlimm sein wird. Die Hoffnung, dass der menschliche Geist rechtzeitig die bahnbrechenden Erfindungen tätigt (oder eh schon in der "Schublade" hat). Die Hoffnung, dass die Forscher sich irren und Kassandras bleiben werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
www.worldwatch.org
http://www.boell.de
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