Nur ein unabhängiges Blatt hat Zukunft
Ein Interview mit Manfred Scheuch im Magazin zum 100. Geburtstag der AZ / Arbeiterzeitung aus dem Jahr 1989
15.07.2023
Dr. Manfred Scheuch (1929 – 2016) war seit 1. Jänner 1963 Redakteur der AZ und seit 2. September 1970 deren Chefredakteur. Er war „gelernter“ Historiker und hat mit einer Geschichte der Vorarlberger Arbeiterschaft dissertiert. Mit ihm sprach Peter Pelinka.
Pelinka: Du hast seit 1963 alle Höhen und Tiefen unserer Zeitung erlebt. Wie bist du zur AZ gekommen?
Scheuch: Noch als Angestellter der Länderbank habe ich als freier Mitarbeiter hauptsächlich außenpolitische Backgroundberichte für Otto Fielhauers Seite 3 geschrieben. Franz Kreuzer bot mir dann an, in die Redaktion einzutreten. Ich sollte in die Außenpolitik kommen, doch dann war Not am Mann, weil Ernst Gehmacher die AZ verließ. So begann ich als „Re-Writer“ im lokalen Teil – wir hatten damals das System, dass die Reporter ausschwärmten und dann einige Redakteure am Tisch den Bericht in druckreife Form brachten. Lokalberichterstattung ist immer noch die beste Schule für angehende Journalisten.
Pelinka: Und der Weg von dort zum Chefredakteur?
Scheuch: Nach drei Jahren übernahm mich Kreuzer in die Innenpolitik. Die SPÖ ging in die Opposition, einesteils ein Vorteil für die AZ, weil sie nun noch einmal zum „Kampfblatt“ wie in alten Zeiten wurde, andererseits hatten die innerparteilichen Querelen auch negative Auswirkungen. Kreuzer schaltete sich mit seinen „August-Gesprächen“ ein, Pittermann wurde von Kreisky abgelöst, und dieser ersetzte bald danach Franz Kreuzer durch Paul Blau. Ein liebenswürdiger Mensch und Kollege, aber kein Tageszeitungsjournalist. Zudem galt er als „Linker“, was einige unserer politischen Redakteure veranlasste, zu gehen. Ich rückte als Leiter des innenpolitischen Ressorts nach. Blau wollte nach drei Jahren aus privaten Gründen nicht mehr. Ein kleines Redaktionsteam hatte bereits ein Reformkonzept ausgearbeitet. Bei einer Fahrt im Wahlkampf 1970 fragte mich Bruno Kreisky, ob ich mir zutrauen würde, die Chefredaktion zu übernehmen. Ich habe mich nicht darum beworben, habe auch nicht intrigiert (darauf bin ich heute noch stolz). Später erfuhr ich, dass sowohl das Redaktionsteam als auch Blau unabhängig voneinander mich vorgeschlagen hatten.
Pelinka: Wie sah denn das neue Konzept aus?
Scheuch: Wir wussten aus Umfragen, dass den Lesern die AZ zu politisch, insbesondere zu parteipolitisch, war. Natürlich hatte da der Boulevard seinen Einfluss, aber es zeigte sich auch schon damals eine Lockerung des politischen „Lagerdenkens“. Die Neugestaltung ersetzte den traditionellen Schriftzug „Arbeiter-Zeitung“ im Titelkopf durch ein rotes „AZ“. Wir haben den Lokalteil verstärkt, die Illustrationen vermehrt, Unterhaltungselemente wie das „Magazin“ auf der letzten Seite eingeführt.
Pelinka: Damals begann ja die SPÖ-Alleinregierung. Hätte sie nicht der AZ Informationen aus erster Hand bieten können?
Scheuch: Ja, das haben wir auch geglaubt und sogar eine eigene Rubrik auf der ersten Seite dafür eingeführt, aber das ging nicht lange gut, denn unsere Minister waren bestrebt, Nachrichten mit echtem Neuigkeitswert in den auflagenstarken Boulevardblättern unterzubringen. So ist die „Erste Hand“ bald wieder friedlich entschlafen. Andererseits hat Kreisky etwas eingeführt, was zumindest für die Backgroundinformation des Chefredakteurs wichtig war. Er zog mich zu den allwöchentlichen Ministerrats-Vorbesprechungen bei, und das haben auch seine Nachfolger so gehalten. Dort war der Informationsfluss größer, als das die wenigen Parteivorstandssitzungen dem statutenmäßig dort kooptierten AZ-Chef bieten konnten.
Pelinka: Brachten die Änderungen Erfolge?
Scheuch: Nur anfangs und nur begrenzt. Wobei zweifellos auch der Vertrieb eine Rolle spielte sowie das Faktum, dass es nie Geld für Imagewerbung und Investitionen gab. Aber überhaupt: Die Zeit war gegen Parteizeitungen. Das sahen wir an etlichen ausländischen Beispielen. Als eine renommierte Unternehmensberatung mit dem Vorwärts auch die AZ (damals waren wir noch eine Tochter der AG) untersuchte, kam sie mit uns zu dem Schluss: Längerfristiges Ziel muss die unabhängige sozialdemokratische Zeitung sein, in einem Nahverhältnis zur SPÖ wie etwa die „Presse“ zur ÖVP. Kreisky war aber dafür nicht zu gewinnen.
Pelinka: Warum? Er schwärmt doch bis heute für ein „Zweibahnsystem“: ein Qualitätsblatt à la „Süddeutsche“ und ein massenwirksames Boulevardblatt wie vor dem Krieg das „Kleine Blatt“.
Scheuch: Aber dafür war ja der Zug längst abgefahren. Noch Oscar Pollak hatte ja – lange vor Wiedergründung der „Krone“ – die Installation des „Kleinen Blatts“ als Tageszeitung verhindert. Vielleicht hätte Kreisky auch Schwierigkeiten in der Partei überwinden müssen. Ich glaube aber eher, dass Kreisky aus seiner ganzen Biographie her mit dem traditionellen Charakter der Arbeiter-Zeitung verbunden war. Für die Genossen, die aus der Ersten Republik kamen, war sie eben nicht eine Zeitung wie andere auch.
Pelinka: Das Ringen um die „lange Leine“ blieb aber doch auf der Tagesordnung.
Scheuch: Weißt du, das Wort mag ich nicht, denn ich habe mich nie als Kettenhund gefühlt, sondern als Teil einer großen Bewegung mit großen Zielen.
Pelinka: Und das ging immer ohne Konflikte ab?
Scheuch: Nicht immer, auch wenn sie selten waren. Aber im Streit Kreiskys mit Wiesenthal wegen des FP-Chefs Peter, da konnten wir kommentarmäßig einfach nicht mitziehen. Und eine ganz schlimme Sache war es – schon vorher – für mich, als der damalige Wiener Bürgermeister Slavik Fälschern aufsaß und mich mit der Versicherung, alles sei geprüft, zur raschen Veröffentlichung dieser angeblichen Finanzierung des „profil“ durch die ÖVP bewog. Das war dann die schlimmste Stunde meiner journalistischen Laufbahn, aber auch eine Lehre. Immerhin: Sukzessive erreichte die Redaktion einiges auf dem Weg zu größerer Offenheit.
Pelinka: Aber die finanzielle Krise blieb.
Scheuch: Ja, das änderte sich auch kaum, als die AZ 1980 vom Vorwärts getrennt wurde und Konecny als Herausgeber kam. Trotz Modernisierung, trotz Einführung der beliebten kleinformatigen Beilage, trotz publizistischer Erfolge wie der Aufdeckung der Rablbauer-Affäre.
Pelinka: 1985 kam dann fast das Ende.
Scheuch: Die letzte Chance war: Ihr bringt eine Erhöhung der Auflage auf 50.000 – beim damaligen Stand: um ein Drittel! – zuwege. Ich war vor Hainburg kein Freund des Kleinformats gewesen. Aber in dieser Situation, in der die „Krone“ so drastisch Politik machte und viele Leser aus der Arbeiterschaft so unzufrieden mit ihr waren, habe ich gemeint: Jetzt müsste so rasch wie möglich die nicht mehr hochgestochene kleine Zeitung her. Und habe das Sinowatz geschrieben. Es hat ein paar Monate gedauert – aber nun stellten wir auf Kleinformat um, wurden lebendiger, leichter lesbar, frecher – und es gelang. Die Vereinigung mit Salzburg und Oberösterreich hat uns wieder zu einer Zeitung mit einer Viertelmillion Leser gemacht. Nur: Die Finanzlage ist wegen der Druckkosten und des Anzeigenschwunds noch immer trist. Mit mir war die Redaktion daher einig mit dem von Vranitzky initiierten Konzept des neuen Geschäftsführers Peterschelka: weg vom Zentralorgan, hin zur linksliberalen, der Sozialdemokratie nahestehenden Zeitung. (Etwas, das es ja in Österreich nicht gibt.)
Pelinka: Du hast viele Karawanen vorüberziehen sehen. Wie siehst du die jetzige Entwicklung?
Scheuch: Sicher: ein bisschen Wehmut ist da. Ihr habt es ja schon mit mir gespürt, als wir 1985 das alte Vorwärtsgebäude an der Wienzeile verlassen mussten. Für den Chefredakteur kommt die Zugehörigkeit zu den Gremien, in denen ich sitze, hinzu: Bundesparteivorstand, Wiener Vorstand, Gewerkschaftsfraktion. In der Ministerratsvorbesprechung bin ich mit 19 Jahren Zugehörigkeit „Doyen“. Diese Teilnahme, nicht als Entscheidungsträger, aber als Augen- und Ohrenzeuge, das ist schon was. Und die Menschen, die Genossinnen und Genossen . . . Aber es ist ja nicht so, dass wir mit dem Abschied vom Zentralorgan unsere sozialistische Gesinnung aufgäben. Und die Einsicht, dass nur ein unabhängiges Blatt Zukunft hat, verbunden mit der Aussicht, einmal eine Zeitung ohne Verluste zu führen, das ist auch etwas. Eine Zeitung, die nicht mit 100 das Zeitliche segnet, sondern eine, die weiter ihre Stimme und ihr Gewicht hat.
Anmerkung: Noch im gleichen Jahr wurde die Zeitung dem Werbemanager Hans Schmid überlassen und erschien dann als „unabhängiges Blatt“ ohne Chefredakteur Manfred Scheuch. Am 31. Oktober 1991 wurde die Arbeiter-Zeitung eingestellt.