Gewandeltes Ober St. Veit

Ein besinnlicher (historischer) Adventspaziergang zwischen „Kimmerl-Haus“ und Wiens vergessenem Schloss
01.12.1962

Der erste Dezembertag ist grau, und über der Stadt liegt feiner Nebel, der Türme, Kuppeln und auch die Hänge der Hügel vom Leopoldsberg drüben bis zu den Höhen des Küniglberges ein wenig verschleiert erscheinen lässt. Der Sonntagvormittag ist still, das Morgenlied der Glocken verklungen. Wir haben hier draußen über Ober St. Veit soeben eines der schönsten Geläute der Wienerstadt gehört, als wir die Stadtbahn verlassen hatten zu einem geruhsamen Adventsspaziergang durch ein Stück Wien, das sich so sehr gewandelt hat. Und das dennoch – trotz seiner Zugehörigkeit zu einem, der größten und modernsten Wiener Gemeindebezirke – in seinem Wesen so dörflich (oder muss man schon sagen: kleinstädtisch?) geblieben ist. Wo wir noch immer Namen finden, die von der innigen Verbundenheit mit Wald, Feld und Flur erzählen: Hagenberg, Girzenberg, Trazerberg, Gemeindeberg, Himmelhof. Nicht bald wo in Wien reicht das Land der Großstadt so herzlich die Hand, wie hier in Ober St. Veit. Von dessen Glocken die Leute hier voll Stolz sagen: „Das schönste G'läut von weit und breit haben wir bei uns in Ober St. Veit..."

Sie dürfen mit Recht auf diese Glocken stolz sein: Zählt doch ihre Kirche zu den wenigen in Wien, die trotz zweier Kriege und diverser „Metallspenden“ ihr Geläut seit dessen feierlicher Aufziehung erhalten haben. Im ersten Weltkrieg wurde auch den Ober St. Veiter Glocken der „Einberufungsbefehl“ zum Einschmelzen zugestellt, und nur auf ausdrückliche Anordnung Kaiser Franz Josephs hat damals die Rüstungsindustrie auf sie verzichten müssen. Die größte der drei Glocken ziert die Inschrift: „Durch das Feuer bin ich geflossen, J. Pfrenger hat mich gegossen anno 1745“. Seit den Tagen der jungen Maria Theresia singt das Ober Sankt Veiter Geläut sein sonntägliches Lied über die Hügel und das Wiental bis weit hinüber zu den Wäldern um die Jubiläumswarte und den Wilhelminenberg. Den stattlichen Glockenmantel schmückt ein feingearbeitetes Ornament, auf dem die Dreifaltigkeit, der heilige Leopold mit zwei Engeln und Sankt Veit bei seinem entsetzlichen Martyrium im Ölkessel sowie Christus auf dem Ölberg zu sehen sind. Die kleinste Glocke des Geläutes ist noch viel älter. Denn sie wurde bereits im Jahre 1724 – also noch bei Lebzeiten Karls des VI. – von dem berühmten Meister Baptiste Dival gegossen.

„Und als der Sonntag angefangen, bin ich den Glocken nachgegangen...“, reimte in beschaulichen Tagen der Alt-Wiener Lokaldichter Johann Gottfried Seuffert in einem Almanach „zum Besten der Waisen der Stadt Wien im Jahre 1821“. Auch wir sind auf unserem Spaziergang dem Ruf der erzenen Zeitkünder gefolgt und haben gleich in der Testarellogasse eine gründliche Wandlung vom traurigen Einst zum besseren Heute entdeckt. Ältere Ober St. Veiter entsinnen sich noch, dass hier an der Ecke Testarellogasse-Auhofstraße einst das so triste „Kimmerl-Haus“ gestanden ist. Ein rechtes „Arme-Leut-Haus“, mit Souterrainwohnungen, Bassena-Milieu, Krankheit, Feuchtigkeit, Zinsjammer und in seiner Gesamtheit das, was der Wiener Volksmund einst sehr drastisch, aber treffend „Wanzenburg“ genannt hat. Heute steht hier ein moderner Neubau. Mit hellen, freundlichen Fenstern und – auch das neue Wien weiß sehr wohl um die Bedeutung eines „Hauszeichens“ – mit dem schon zum Begriff gewordenen „Reh in der Auhofstraße“ vor dem Eingang. Aber trotz Reh und moderner Architektur ist auch dieses Haus bei den „erbansässigen“ Alt-Ober-St.-Veitern (sie unterscheiden sich stolz von den „zuagrasten“ Neu-Ober-St.-Veitern!) noch immer das „Kimmerl-Haus“. Wir wären ja sonst nicht in Wien...

Wie an der Ecke der Testarellogasse, so hat im Lauf der letzten Jahre die ganze „alte“ Auhofstraße ihr Gesicht zu wandeln begonnen. Die Spitzhacke hat der Reihe nach die ramponierten Bauwerke geholt, die der Wiener Volksmund mit dem (übrigens aus dem Tschechischen in die Wiener Mundart eingewanderten) Begriff „Kaluppen“ treffend schildert. Man hat aber dennoch nicht verabsäumt, Denkwürdiges instand zu halten, wenn es von solcher Bedeutung ist wie etwa das Haus Auhofstraße Nr. 144. Seit einiger Zeit schmückt seine Fassade eine Gedenktafel mit der Inschrift: „In diesem Hause wohnte von 1901 bis zu seinem Tod im Jahre 1924 der österreichische Afrikaforscher Friedrich Julius Bieber. Seine Lebensarbeit galt der Erforschung des Kaisergottreiches Kaffa in Süd-Äthiopien. Geographische Gesellschaft Wien.“

Auf einer eingemeißelten Karte von Afrika ist dieses geheimnisvolle Stück Äthiopien besonders hervorgehoben, das der einstige Wiener Schuhmacherlehrling und später so berühmt gewordene Afrikaforscher Bieber enträtselt und der Wissenschaft gerettet hat. Viele Ober St. Veiter können sich noch recht gut an den weißbärtigen Herrn Oberrechnungsrat erinnern, der dann seine großen Forschungswerke nach seinen Afrikareisen hier in der Auhofstraße 144 geschrieben hat.

Die Wienerstadt wächst, und Ober St. Veit mit ihr. Gärten sind dahingegangen, Wiesen, die noch im vergangenen Sommer geblüht, sind heute schon Baustellen, und morgen werden junge Menschen hier wohnen. „Neu-Ober-Sankt-Veiter“, die dann vielleicht bei einem Spaziergang durch ihre neue „engere Heimat“ auch einmal in den kleiner Streckerpark in der Auhofstraße kommen. Er findet sich noch immer dort, wo die Diabelligasse und die Tuersgasse abzweigen, und zeigt eine andere interessante Ober St. Veiter Gedenktafel. Sie ist aus Marmor, in einen Naturstein eingelassen, und teilt der Nachwelt mit: „Diese Gartenanlage wurde von der Gemeinde Wien an Stelle des alten Ober St. Veiter Friedhofs unter dem Bürgermeister Dr. Karl Lueger im Jahre 1908 errichtet.“

So geschehen damals, als man auf dem Gemeindeberg den neuen Gottesacker anlegte als letzte Erdenstation der Ober St. Veiter. Mit dem Namen dieses Parks aber wollte man die Erinnerung an einen der letzten Bürgermeister des einst selbständigen Vorortes Ober St. Veit, Franz Strecker, in Erinnerung halten.

Das Gasthaus gegenüber der kleinen Grünanlage bekundet allerdings ein weit fröhlicheres Gedenken. Denn es trägt noch immer seit den Tagen der „Steinzeit“ des Sports in Wien den originellen Namen „Zum lustigen Radlfahrer“. Obwohl heute die Stammkunden – meist samstags und sonntags – hier per Moped vorfahren, um sich bei Musikbox nebst einschlägiger Kunstdarbietung fröhliche Stunden zu gönnen. Allerdings erklingen dabei andere Songs als damals, da auch beim „Lustigen Radlfahrer“ in vorgerückter Stunde eines der ersten weiblichen Mitglieder der „Wiener Radler“, die fesche Kiesler-Lenerl (sie starb kürzlich als verehrte mehrfache Großmama und Oberbahnratswitwe), hier ihren hübschen Sopran hören ließ. Bisweilen mit dem damaligen Schlager: „Jössas, der fahrt aa am Radl! Schaut's euch nur den Schnipfer an...“.

Der Sinnspruch von den sich wandelnden Zeiten, mit denen wir uns wandeln – wir haben ihn bei unserem beschaulichen Adventsspaziergang durch Ober St. Veit immer wieder bestätigt gefunden. In der Tuersgasse auf Nr. 9 steht wohl noch tapfer und mutig das angeblich wirklich „kleinste Haus von Wien“, das zur Straße hin nur ein Fenster und eine Türe zeigt. Aber schon ragt daneben ein stattlicher Neubau, über den sich das ganz allmählich städtisch werdende einstige Milchmeier- und Weinbauerndörfl der Ur-Ober-St.-Veiter wohl gewaltig wundern würden. Diese „Erzväter“ aber hausten nach den Feststellungen der Forschung dort oben auf dem Gemeindeberg, wo die Funde einer Steinzeitsiedlung den Gelehrten vor etlicher Zeit helle Freude bereitet haben. Dort hält auch noch einer die Fahne der Tradition um den einst so hochgeschätzten „guten Tropfen“ in Ober St. Veit hoch. Es ist der Wirt „Zur schönen Aussicht“, der als Hauer und Hüter im letzten Weingarten von Alt-Ober-St.-Veit in den Kreisen abendlicher Pilger zu den grünen Laternen sein Renommee hat.

Verloschen jedoch ist durch den Wandel der Zeit solch ein Laternchen vor dem „Doll“. Generationen von Wienern wohlbekannt als Endstation eines beschaulichen Spaziergangs vorbei beim „Stock im Weg“ bis zur Mauer des Lainzer Tiergartens. Dennoch verlohnt sich der Besuch hier auch heute noch der wundersamen Stimmung wegen, die um das alte Kreuz und die Kapelle an solch einem Adventstag weben kann. Die Überlieferung erzählt, dass sich in den Schreckenstagen von 1683 eine Richtstätte der Türken hier befunden haben soll. Damals, als die schon im Jahre 1170 zum ersten Mal urkundlich genannte Ober St. Veiter Pfarrkirche in ihrer bewegten Geschichte wieder einmal zerstört worden war.

Mit dem gleichen ungebrochenen Mut, mit dem sie Anno 1433 der Wiener Dompropst Wilhelm Tuers nach Kriegswirren neu erbaut hat, ließ nach dem Türkensturm auch Erzbischof Kollonitsch sie wieder erstehen. Und mit ihr jene so noble Sommerresidenz mit dem ausgedehnten Park, die jedoch dann im Lauf der sich wandelnden Zeit zu Wiens „vergessenem Schloss“ geworden ist. Gar seit die Wiener Oberhirten Kranichberg bei Gloggnitz als Landsitz erwählt hatten und nur noch selten Tor und Portal sich auftaten, die heute noch so beredt von Kaleschen und Karossen zu erzählen wissen.

Das neue Pfarrhaus, das sich in schlichtem Stil anheimelnd in die Architektur ringsum einfügt, profiliert dieses Herzstück von Ober St. Veit ganz neu. Denn durch die Zurücksetzung der Baulinie kommt jetzt erst die Schönheit und auch die repräsentative Größe der dem heiligen St. Veit geweihten Kirche und des angrenzenden Bischofssitzes zur Geltung. Ein Teil der restaurierten Gartenmauer wirkt gleich einer Burgbastion. Er unterstreicht damit den Gedanken des „geistlichen Kastells“, als das Graf Kollonitsch den wiedererstandenen Bischofssitz gesehen wissen wollte. In den kahl gewordenen mächtigen Baumkronen singt an diesem Dezembertag der Wind jetzt sein Lied vom Kommen und Gehen der Menschen, in diesem uralten einstigen Dorf am Hang des Hagenberges zum Wienfluss hinab. Zu dem die Firmiangasse und die nach einem anderen einstigen Bürgermeister von Ober St. Veit benannte Glasauergasse führen. Wo in stillen Höfen und unter traulichen Einfahrten die Vergangenheit uns zulächelt und zu flüstern scheint: „Hier ist schon noch alles beim alten!“..

Quellen:
Ein Beitrag von Otto Stradal im Kurier vom 1. Dezember 1962

Übertragen von hojos
im Dezember 2021