Körper und Seele in der Kunst von Egon Schiele
Vortrag von Dr. Johann Thomas Ambrózy
17.10.2020
Johann Thomas Ambrózy, Dr. phil., ist ein Wiener Kunsthistoriker mit österreichisch-ungarischen Wurzeln. Nach jahrzehntelanger Forschungserfahrung in diversen Bereichen der Kunstgeschichte spezialisierte er sich 2008 vor allem auf Egon Schiele und die frühe österreichische Moderne. Seit 2009 ist er erfolgreich mit der Entschlüsselung der bis dahin völlig missverstandenen rätselhaften Ikonographie des allegorischen Werkes von Egon Schiele befasst und arbeitet an der Erkennung und Erforschung von Schiele-Fälschungen. 2010 begründete er gemeinsam mit internationalen Forscherinnen das „Egon Schiele Jahrbuch“, die weltweit einzige periodische wissenschaftliche Sammelpublikation zu Egon Schiele. Ambrózy ist Präsident der 2015 von ihm mitbegründeten, unabhängigen, internationalen „Egon Schiele Research Society“ mit Sitz in Wien. 2017 war er der wissenschaftliche Berater der großen Egon Schiele-Ausstellung der Wiener Albertina und Hauptautor des Kataloges der Ausstellung. Seit 2012 organisiert er das jährlich in Wien und Neulengbach (NÖ) stattfindende, meist zweitägige „International Egon Schiele Research Symposium“.
Der im Rahmen einer Veranstaltung im Oktober 2020 im Wiener Narrenturm gehaltene Vortrag Ambrózys über Egon Schiele war aufgrund der zeitlichen Vorgaben extrem kurz gehalten und wurde im Rahmen der Übertragung in die hier vorliegende Form noch weiter gestrafft. Das führt naturgemäß zu erheblichen Lücken in der Darstellung von Vita und Werk Schieles, hat aber den Vorteil einer recht kurzweiligen Vermittlung wesentlicher Aspekte. Der ganze Vortrag kann HIER aufgerufen und angesehen werden.
Leben und Werk von Egon Schiele (1890–1918) – ein kurzer Überblick
Zum Beginn dieses Vortrags eine Karte mit den Nationalitäten Österreich-Ungarns zur Zeit Schieles (alle Bilder zum Vergrößern anklicken). Es gab unzählige Konflikte zwischen den Volksgruppen, man kann es auch Hass nennen. Die Monarchie war ein todgeweihter Staatsverband.
Die zweite Problematik ist die soziale Frage. Sie besteht bis heute, und wenn wir sie nicht lösen, werden wir als Menschheit zugrunde gehen.
Schiele war mit zwei Stil-Generationen konfrontiert:
- Der Ringstraßenzeit, in der die untergehende Monarchie mit dem Historismus noch einmal groß zur Blüte kam, ähnlich dem Angsttrieb einer Pflanze. Auf der Ringstraße wurden Prunkbauten errichtet wie die k. k. Hofoper, das „Erste Haus am Ring“ (1861–69 nach Plänen von Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg).
- Der frühen Moderne, hier die Wiener Secession, errichtet 1898 nach Plänen von Joseph Maria Olbrich als Ausstellungsgebäude der gleichnamigen 1897 gegründeten Künstlervereinigung.
Die wesentlichen Stationen im Leben Egon Schieles im Telegrammstil:
1890 – In Tulln als Sohn des Vorstandes des damals bedeutenden Bahnhofes geboren. Behütete Kindheit, zuerst Privatunterricht, dann Volksschule in Tulln. Schiele beginnt schon als Kind zu zeichnen.
1901 – Realgymnasium in Krems, dann Klosterneuburg. Er ist ein schlechter Schüler aber ein begabter Zeichner.
1904 – 31. Dezember – Tod des geliebten, schwer erkrankten Vaters in Klosterneuburg, ein Verlust, unter dem Schiele sein Leben lang leidet. Der Tod des Vaters bedeutete auch einen sozialen Abstieg und den Verlust der Dienstwohnung in Tulln.
1906 – Nachdem er ein zweites Mal die Klasse wiederholen müsste, nimmt ihn die Mutter vorzeitig aus der Schule und unterstützt gegen den Widerstand des Vormundes, des wohlhabenden Onkels Leopold Czihaczek, Schieles Bewerbung an der k. k. Akademie der bildenden Künste – wo er nach bestandener Aufnahmsprüfung im Oktober aufgenommen wird.
1907 – Von der konservativen Kunstauffassung abgestoßen interessiert er sich für die Secession und lernt Gustav Klimt persönlich kennen.
1909 – Schiele verlässt mit einigen Kollegen vorzeitig die Akademie, gründet mit ihnen die „Neukunstgruppe“. Teilnahme an der „Internationalen Kunstschau 1909“, Bekanntschaft mit Josef Hoffmann, Kontakte zur Wiener Werkstätte. Bei der Ausstellung der Neukunstgruppe lernt er den Kunstschriftsteller Arthur Roessler kennen, seinen fortan lebenslangen Förderer und Berater.
1909/10 – Schiele überwindet den dekorativen Jugendstil und findet zu seinem eigenen, unverwechselbar expressiven Stil. Von dieser Stilfindung an kann von dem allgemein bekannten „Schiele“ gesprochen werden, und sein Wirken dauert nur mehr neun Jahre. An den Werken davor würden ihn nur Fachleute erkennen.
1910 – Schiele versucht mit dem Studienkollegen Anton Peschka und dem Abenteurer Erwin Dominik Osen in Krumau an der Moldau (Südböhmen) eine Art Künstlerkolonie zu gründen, was aus finanziellen Gründen scheitert. In Krumau hat Schiele mütterliche Vorfahren.
1911 – Zweiter Versuch, sich in Krumau niederzulassen, er wird aber aus Krumau bald hinausgeekelt. Ende 1911/Anfang 1912 (?) lernt er Walburga „Wally“ Neuzil kennen.
1911/12 – Schiele lässt sich in Neulengbach nieder. Es ist ihm wichtig, in der Nähe der Großstadt (gute Bahnverbindung!) und doch in der Natur zu sein. Er hat eine sehr fruchtbare Schaffensphase, sie wird aber durch seine Inhaftierung („Neulengbacher Affäre“) jäh beendet. Nach seiner Freilassung ist er in Neulengbach nicht mehr wohl gelitten und übersiedelt nach Wien.
1912–15 – In Wien entwickelt Schiele seinen Stil weiter. Er ist auch organisatorisch begabt, beschickt zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland und gewinnt eine kleine Schar von Sammlern, deren Ankäufe (vor allem von Arbeiten auf Papier) ihm sein Leben als freischaffender Künstler recht und schlecht ermöglichen. Es sind Jahre des unermüdlichen Schaffens und des Erfolges. Er reist zwar sehr viel, sein Wohnsitz und Atelier bleibt aber (abgesehen von seinem Kriegsdienst) von nun an bis zu seinem Tode Wien.
1915 – Trennung von Wally und – nach Einberufung zum Kriegsdienst – Trauung mit Edith Harms, einer vis-a-vis seines Ateliers im Haus Hietzinger Hauptstraße 114 wohnenden Schlossermeisterstochter. Sein Atelier hat er seit 1912 in der Hietzinger Hauptstraße 101.
1915–18 – Schiele kommt nicht an die Front, er wird in einem Kriegsgefangenenlager für russische Offiziere sowie in der Verwaltung eingesetzt. Von seinen Vorgesetzten gefördert kann er neben seinem Dienst zeitweise auch künstlerisch arbeiten und sogar Ausstellungen organisieren.
1916 – Schiele führt während seiner Stationierung in Mühling (NÖ) ein Tagebuch.
1917 – Er nimmt an Ausstellungen in Wien, München, Stockholm und Kopenhagen teil.
1918 – Im Februar stirbt Gustav Klimt. Schiele hatte zu ihm eine sehr gute Beziehung und er hatte ihn auch trotz des stilistischen Unterschiedes – sie waren Maler unterschiedlicher Generation – verehrt. Nach dem Tode Gustav Klimts gilt Egon Schiele als führender Künstler Österreichs, und die 49. Ausstellung der Secession im März wird für Schiele zum riesigen Erfolg.
Oktober 1918 – Seine im 6. Monat schwangere Frau Edith bekommt die Spanische Grippe und Egon Schiele, der sie pflegt, steckt sich dabei an. Drei Tage danach, am 31. Oktober erliegt auch er der Krankheit.
Schiele wurde schon von Anfang an (ab 1909 von konservativen Journalisten) in die Nähe von Geisteskrankheit gerückt. Dann wurden seine Werke von der Schiele-Literatur schließlich jahrzehntelang – statt mühevoll kritisch-wissenschaftlich zu arbeiten und schlüssige Belege beibringen zu können – einfach frei phantasierend, nach oberflächlichem Augenschein, psychologistisch (fehl-)interpretiert. Eine „Methode“, die vielfach noch bis heute praktiziert wird und die „öffentliche Meinung“ über Egon Schiele weitgehend beherrscht.
Hier wurde aber der wesentliche Unterschied nicht verstanden. Die medizinischen Bilder zeigen arme Menschen, die wirklich deformiert sind. Die Selbstporträts zeigen aber einen gesunden Menschen, der etwas ausdrückt. Und die Deformation der Finger der kranken Menschen wurde als Anregung für die Fingerhaltung in Schieles Bildern, wie den „Eremiten“ und dem unten gezeigten Selbstbildnis mit gesenktem Kopf, insinuiert.
Die Klärung der Herkunft von Schieles „V-Geste“ bedurfte einer langen Detektivarbeit, aber anhand von Details konnte Thomas Ambrózy nachweisen, dass sie einem byzantinischen Mosaik nachempfunden wurde. Schiele war nie in Byzanz/Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, aber das Buch mit diesen Bildern gab es in der Akademie.
Das Jahrbuch mit der umfangreichen Arbeit Ambrózys über die Herkunft der Geste kann HIER heruntergeladen werden.
Noch eine Ergänzung zu den oft übergroßen Händen in Schieles Malerei. Immer schon, z. B. bei den Ägyptern und den Etruskern, besonders aber in der modernen Malerei wurden solche Elemente stilisiert dargestellt. Was es bedeutet, muss von Fall zu Fall analysiert werden. In Schieles Selbstbildnissen ist auch der Kopf immer schmäler (gelängt) dargestellt, das ist ebenfalls eine Stilisierung.
Sehr wohl in Steinhof war aber Schieles Freund Erwin Osen, und er hatte dort Patienten gezeichnet. Bei Osen weiß man nicht, ober er Schieles Freund oder Feind war, denn er hatte ihn bestohlen und seine Werke gefälscht, aber Schiele verzieh ihm alles.
Osen war allerdings ein Tausendsassa, auch ein Hochstapler, und muss schon ein faszinierender Mensch gewesen sein.
Egon Schiele war einmal in einer medizinischen Institution, aber dort stellt er keine deformierten Körper dar sondern eine Schwangere und ein Neugeborenes.
Viel Interessanter ist der Einfluss von Hermann Vinzenz Heller, der sich ausführlich mit dem menschlichen Gesichtsausdruck befasst und seine Erkenntnisse publiziert hat. Das betraf natürlich nicht den krankhaften Gesichtsausdruck, sondern die verschiedenen menschlichen Stimmungen. Das ist vor allem für Schauspieler interessant. 1906, im ersten Jahr seines Unterrichts auf der Akademie der bildenden Künste war er tatsächlich auch der Anatomielehrer Egon Schieles.
Wer sich lange mit Schiele befasst weiß, dass er sich mit seiner Malerei an konkreten historischen Werken orientierte.
Noch ein Hinweis zur Medizin: Der mit Schiele befreundete Gustav Klimt bekam gemeinsam mit seinem Malerkollegen Matsch den Auftrag, die Decke der Aula des neuen Universitätsbaues zu gestalten. Klimt steuert drei Fakultätsbilder bei. Das führte zu einem der größten damaligen Kunstskandale. Klimt hat die Gemälde zurückgekauft und keine öffentlichen Aufträge mehr angenommen.
Ein anderer Freund Egon Schiele, Max Oppenheimer, hat tatsächlich Medizin in Aktion dargestellt. Schiele selbst hat niemals Medizin als Thema seiner Bilder gewählt.
Jetzt zum Thema Fälschungen. Die Entlarvung von Schiele zugeordneten Bildern als Fälschung ist nicht immer unumstritten. Bei den in der nächsten Folie gezeigten Bildern handelt es nach der Ansicht Thomas Ambrózys aber eindeutig um Fälschungen.
Ein berühmtes Dictum von Egon Schiele lautet: „Auch das erotische Kunstwerk hat Heiligkeit!“ Er hat dies in einem Brief an seinen Onkel Leopold Czihaczek am 11. September 1911 im Rahmen einer kleinen Sammlung von Aphorismen („einige Aphorismen von mir“) festgehalten.
Auch über die Entschlüsselung der folgenden Bildreihe hat Thomas Ambrózy lange Aufsätze geschrieben:
Besonders zu dem mittleren Bild „Liebkosung“ dieser Bildreihe wurde immer wieder gesagt, in seiner Sexbesessenheit scheut Egon Schiele nicht einmal davor zurück, selbst Mönch und Nonne einschlägig darzustellen. Man hat sogar gesagt, das ist ...?... Tatsächlich aber beruht das Bild „Liebkosung“ auf dem Roman „Heilige Liebe“. Darin geht es um die Machtpolitik der Kirche. Klara von Assisi, eine sehr tapfere Frau, widersetzt sich. Nach Ansicht von Thomas Ambrózy handelt es sich bei der Bilderreihe um die Geschichte von Franziskus und Klara, daher nennt er sie „Franziskus- und Klara-Zyklus“. „Bekehrung“: Franziskus nimmt Klara und Agnes von Assisi, die zu ihm geflüchtet sind, in geistlichen Schutz. „Liebkosung“: Klara von Assisi widersteht dem kirchenpolitischen Druck des Kardinal Ugolino. „Agonie“: Elias von Cortona verwehrt dem sterbenden Franz von Assisi den Zutritt zum Kloster Portiunkula.
Hier die Aufschlüsselung des Bildes „Liebkosung“:
Die Bestrebungen, Schiele ins krankhafte Eck zu schieben, hätten schon nach dieser Aussage von Schieles Freund Paris von Gütersloh aus dem Jahr 1911 zu Ende sein können, hätte man diese Worte ernst genommen:
„Aber der senilen Erotik kritischer Greise sollte man endlich verbieten, hinter der sinnlichen Form eines Jungen, die auch unkeusch verstanden werden kann, nur das ‚Auch‘ zu hören; es geht nicht mehr an, einem qualvoll erwachsenden Künstler auch noch die Pubertätsnöte eines Menschen nachzusagen; es sollte ihnen bedeutet werden, dass das Mitleid der Impotenz dem Insinuieren einer Masturbation verdammt ähnlich sieht, und dass irgend ein Künstler das geeignete Objekt ist, seine Kenntnis der pathologischen Nomenklatur daran zu demonstrieren.“ Paris von Gütersloh, Egon Schiele, Versuch einer Vorrede. Verlag Graphische Kunstanstalt Brüder Rosenbaum, Wien [1911) (Hier zitiert nach Nebehay, 1979, p.154)
Schiele hat niemals körperliche oder psychische Krankheit (wie z. B. Osen) oder Versehrtheit (z. B. Kriegskrüppel wie etwa Otto Dix) als solche in seiner Kunst zum Sujet genommen. Wenn er seine todkranke Frau zeichnet, dann zeichnet er sie als seine geliebte Frau und nicht als „Kranke“.
Schiele hat niemals „medizinische Behandlung“ (etwa eine Operation) oder die „Medizin“ als solche (z. B. als Allegorie) dargestellt.
Es ging Schiele offenbar in seinen Menschendarstellungen um etwas „Tieferes“ – um die grundsätzliche, existentielle Problematik des Lebens – und um Ethik und Spiritualität. In diesem Sinne aber war er ein natürlicher Verbündeter einer ethisch und spirituell orientierten Heilkunst.
Konkreteres dazu in einer der nächsten Publikationen Thomas Ambrózys. Hier noch ein paar Literaturhinweise:
1913 schrieb Egon Schiele: „Ich weiß, dass unter tausend einer ist, welcher mit Liebe zu den Menschen, den Tieren, den Pflanzen und ...(?) lebt. Dass unter tausend einer ist, der den Organismus von allen Dingen erkennt. Der in dem Seelenleben der Pflanzen und in deren Antlitz den lebendigen Hauch ihres Gesichtes sieht.“
Zum Abschluss noch die Frage: Sind wir Körper und haben eine Seele oder sind wir eine Seele, die sich nur temporär in der Materie inkarniert? Schieles Tendenz erhellt aus folgendem Zitat: „Der bedeutende Mann und der große Künstler gelten für mich nicht so viel, wie der reine erhabene veredelte Mensch (Christus) – ich bin durch Liebe hereingekommen, ich lebe mit Liebe für alle Stufen meiner Mitlebenden und will aus Liebe von hier gehen.“
Das ist Egon Schiele.