Vinzenz Jerabek - eine Art Selbstbiografie
Der Wiener Heimatdichter Vinzenz Jerabek, bekannt als Verfasser echter Wiener Kurzgeschichten unter dem Namen J. Vinzenz, hatte 1956 mit dem Titel:
"Erlebtes und Erlauschtes aus Wiens Vorstadt"
eine Sammlung seiner besten Erzählungen herausgegeben. Es war ein stattlicher Band von 400 Seiten und mit 5 Bildern von Bezugsobjekten Vinzenz' geworden. Die letzte Geschichte dieses Bandes ist eine Selbstbiografie. Hier ist sie.
22.01.1875
Mir selbst wäre so ein Gedanke nie gekommen, aber da hab' ich einen Freund, und der "penzte" fortwährend: "Du musst eine Selbstbiographie schreiben! Jeder bessere Hochstapler gibt heutzutage eine solche heraus. Von gewesenen Feldherren, Räuberhäuptlingen und Bankdirektoren besitzen wir Selbstbiographien, also mache dich daran!"
Dieses ewige Zureden ging mir schon "auf die Nerven", und so setzte ich mich hin und schrieb "meine" Selbstbiographie. Sie ist sehr frugal, dafür aber wahr. Hier ist sie:
Jeder Mensch, der da glaubt, ohne eine Selbstbiographie nicht sterben zu können, ist sicher einmal geboren worden; der Hauptpunkt für die Selbstbiographie. Nun, so ist es mir auch ergangen. Das erhebende Ereignis hat sich am 22. Jänner 1875 zugetragen, und zwar "im Spitzerhaus", das heute noch in der Auhofstraße steht.
Dieses ewige Zureden ging mir schon "auf die Nerven", und so setzte ich mich hin und schrieb "meine" Selbstbiographie. Sie ist sehr frugal, dafür aber wahr. Hier ist sie:
Jeder Mensch, der da glaubt, ohne eine Selbstbiographie nicht sterben zu können, ist sicher einmal geboren worden; der Hauptpunkt für die Selbstbiographie. Nun, so ist es mir auch ergangen. Das erhebende Ereignis hat sich am 22. Jänner 1875 zugetragen, und zwar "im Spitzerhaus", das heute noch in der Auhofstraße steht.
Das Dorf Ober-St. Veit ist zu dieser Zeit ein Idyll im Grünen gewesen. Am Rand des Wienerwaldes, besaß es eine Fülle von Wiesen, Äckern, Weingärten, eine schöne Au an der Wien, bewaldete Hügel und vor allem die "Edleseelackn", ein Gewässer unterhalb des Roten Berges. Die Edleseelackn! Ein Eldorado für uns Kinder, ein Ort der Angst für besorgte Mütter. Was wir da für schreckliche Geschichten zu hören bekamen! Die Edleseelackn ist so tief, dass man den St.-Veiter Kirchturm zweimal übereinander hineinstellen könnte. Wer da hineinfällt, kommt nicht mehr heraus, weil er sich sogleich in ein Pflanzengewirr verstrickt, das ihn nicht mehr auslässt, so dass er elendiglich ersaufen muss. Der Sage nach lagen darin ein Bierwagen samt Fässern, zwei schwere Rösser mit ihrem gleichfalls beleibten Kutscher. Und von den armen Ertrunkenen, die nachts, von den Irrlichtern angezogen, in das Wasser hineintappten und nicht mehr herauskonnten, hieß es, sie wären unzählbar. Zur Steuer der Wahrheit über die so schändlich verleumdete "Lacken" muss ich anführen, dass wirklich einmal ein Mann darin ertrunken ist. Der Mann aber hatte seinen kompletten Samstagsrausch, ist auf dem Heimweg auf eine "Irrwurzen" getreten, den "Irrlichtern" nachgegangen und ins Wasser gefallen. Und das Merkwürdige an der Sache war, die Kleider waren staubtrocken, der Mann lag nämlich auf dem Uferrand im Gras, bloß der Kopf steckte im Wasser. Der Rausch muss demnach ein ganz gewaltiger gewesen sein.
Wie einmal der Herr Pfarrer in der "Alten-Jahrs-Predigt" verkündete, besaß unser Dorf 1500 Einwohner, 118 Kühe, 73 Pferde und eine Anzahl Ziegen. Wir hatten einen Bürgermeister, einen "Wachter", einen Mesner, der zugleich Vorbeter und Totengräber war. Dazu kam noch eine berühmte Medizinfrau, die alte Schabschneiderin. Sie erzeugte eine schwarze Salbe, die alles heilte. Kam ein Bursche mit einem Loch am Schädel von der letzten Sonntagsrauferei, die schwarze Salbe heilte es. Stellten sich alte Bäuerinnen ein, mit fürchterlichen Hühneraugen oder, was noch ärger war, mit überlebensgroßen "Gfrörballn", die schwarze Salbe vertrieb sie. Jeder "Schifern" in der Hand, jeder halb abgeschnittene Finger, jeder "Dippel" (Beule) wich der Heilkraft der schwarzen Salbe. Vergessen darf ich nicht den braven Werkelmann Ehrlich, der jeden Nachmittag durch hervorragendes Spiel Kunst unters Volk brachte.
Die männlichen Einwohner bauten Wein, die weiblichen erpressten Milch von ihren Kühen. Der erste wurde im Ort getrunken, die zweite wurde den Stadtleuten zugeführt.
Kürzlich bin ich bei meinem Geburtshaus vorbeigekommen und habe einen Blick in den alten Hof getan. Er dürfte nicht mehr so romantisch sein wie zu meiner Kinderzeit. Es ist daran schon modernisiert worden. Ja, damals! Ich sehe noch den breiten Hackstock, auf dem zwei Frauen Platz genug hatten, um sich über eine dritte, Abwesende, zu unterhalten. Daneben stand ein grün gestrichener Laternenpfahl. Von der Laterne war nur der Rahmen da. Die Gläser wurden von der vielversprechenden häuslichen Jugend stets eingeworfen, und die Petroleumlampe hatte sich eine Partei ausgeborgt und war damit ausgezogen. Das Schönste aber für mich war das Kanalgitter. Wenn der Mond in den Hof blickte, da kamen die "Ratzen" durchs Gitter, stellten sich zur Quadrille auf und begannen unter herzigem Pfeifen zierlich zu tanzen. Das war ungeheuer romantisch.
Meine Mutter, die für Romantik keinen Sinn besaß, zog aus dem Hause fort, und mir blieb nichts anderes übrig als mitzuziehen. Das Ausziehen war damals, als es noch kein Wohnungsamt gab, eine leichte Sache, und ich glaube, dass wir während meiner Kinderzeit etwa zehnmal ausgezogen sind. Wir kamen in ein altes, kleines, liebes Häuserl. Heute steht ein moderner Bau an seiner Stelle. Gegenüber unserem Fenster zog sich ein großer Garten hin, an dessen Ende der heilige Johannes von Nepomuk stand. Er hielt ein Kreuz im rechten Arm und blickte ernst vor sich hin. Ober seinem Haupt hing ein großer Stern und zu bei den Seiten standen Kastanienbäume.
Wie einmal der Herr Pfarrer in der "Alten-Jahrs-Predigt" verkündete, besaß unser Dorf 1500 Einwohner, 118 Kühe, 73 Pferde und eine Anzahl Ziegen. Wir hatten einen Bürgermeister, einen "Wachter", einen Mesner, der zugleich Vorbeter und Totengräber war. Dazu kam noch eine berühmte Medizinfrau, die alte Schabschneiderin. Sie erzeugte eine schwarze Salbe, die alles heilte. Kam ein Bursche mit einem Loch am Schädel von der letzten Sonntagsrauferei, die schwarze Salbe heilte es. Stellten sich alte Bäuerinnen ein, mit fürchterlichen Hühneraugen oder, was noch ärger war, mit überlebensgroßen "Gfrörballn", die schwarze Salbe vertrieb sie. Jeder "Schifern" in der Hand, jeder halb abgeschnittene Finger, jeder "Dippel" (Beule) wich der Heilkraft der schwarzen Salbe. Vergessen darf ich nicht den braven Werkelmann Ehrlich, der jeden Nachmittag durch hervorragendes Spiel Kunst unters Volk brachte.
Die männlichen Einwohner bauten Wein, die weiblichen erpressten Milch von ihren Kühen. Der erste wurde im Ort getrunken, die zweite wurde den Stadtleuten zugeführt.
Kürzlich bin ich bei meinem Geburtshaus vorbeigekommen und habe einen Blick in den alten Hof getan. Er dürfte nicht mehr so romantisch sein wie zu meiner Kinderzeit. Es ist daran schon modernisiert worden. Ja, damals! Ich sehe noch den breiten Hackstock, auf dem zwei Frauen Platz genug hatten, um sich über eine dritte, Abwesende, zu unterhalten. Daneben stand ein grün gestrichener Laternenpfahl. Von der Laterne war nur der Rahmen da. Die Gläser wurden von der vielversprechenden häuslichen Jugend stets eingeworfen, und die Petroleumlampe hatte sich eine Partei ausgeborgt und war damit ausgezogen. Das Schönste aber für mich war das Kanalgitter. Wenn der Mond in den Hof blickte, da kamen die "Ratzen" durchs Gitter, stellten sich zur Quadrille auf und begannen unter herzigem Pfeifen zierlich zu tanzen. Das war ungeheuer romantisch.
Meine Mutter, die für Romantik keinen Sinn besaß, zog aus dem Hause fort, und mir blieb nichts anderes übrig als mitzuziehen. Das Ausziehen war damals, als es noch kein Wohnungsamt gab, eine leichte Sache, und ich glaube, dass wir während meiner Kinderzeit etwa zehnmal ausgezogen sind. Wir kamen in ein altes, kleines, liebes Häuserl. Heute steht ein moderner Bau an seiner Stelle. Gegenüber unserem Fenster zog sich ein großer Garten hin, an dessen Ende der heilige Johannes von Nepomuk stand. Er hielt ein Kreuz im rechten Arm und blickte ernst vor sich hin. Ober seinem Haupt hing ein großer Stern und zu bei den Seiten standen Kastanienbäume.
Von unserem Fenster aus, an dem ich immer saß, konnte ich den heiligen Mann genau anblicken und begann Gespräche mit ihm zu führen. Ich muss damals schon über eine gewisse Beobachtungsgabe verfügt haben, und beim Johannes gab es für mich allerlei zu beobachten. Vor ihm lag ein breiter Rasenfleck, und auf dem blies in der Frühe der Halter. Darauf schwankten im langsamen Trott aus allen Haustoren die Kühe heran. Waren alle beisammen, so zogen sie mit ihrem Führer zur Au an der Wien. Hierauf trat Stille ein. Wenn um zehn Uhr die Schule ihre Pforten schloss, dann kam die wilde Jagd herbeigestürmt. Und ohne Respekt vor dem heiligen Mann auf dem Sockel begann ein erhebliches Raufen. Nämlich: im Nachbarort Hacking hatten sie keine Schule, so kam denn die Hackinger Jugend zum Unterricht nach St. Veit. Vom Fenster, wo ich auf dem breiten Brett saß, sah ich mit großem Vergnügen der Balgerei zu. Rückte dann langsam um die Gartenecke der "Wachter" an, dann zerstoben Freund und Feind und der Heilige verfiel wieder in sein nachdenkliches Sinnen.
Keine vier Jahre war ich alt, starb mein Vater. Meine Mutter, sie war eine "Weißnäherin", begann den Kampf mit dem Dasein und mit mir. Sie hat in beiden Fällen den kürzeren gezogen. In der Wohnung, in der der Vater starb, mochte sie nicht mehr bleiben, also zogen wir wieder einmal aus. Nur einige HäuserIn weiter, ins Brücknerhaus. Hier stand ich gerne beim Haustor und sah und hörte, was um mich herum vorging. Drüben im "Schattingerhaus" saß der Petrakschuster an seinem Fenster, in einem grünen Rahmen von Blumen und einer Menge Vogelkäfigen, und klopfte seine Sohlen weich, was in den umliegenden Gässchen zu hören war. Gegenüber, beim Fleischhacker Fronz, wurde ein Ochs geschlagen. Einmal geschah es, dass der Knecht nicht gut traf, der Ochs ausriss, durch die Lange Gasse rannte, beim Bürgermeister, der auch ein Schuster war, den an der Mauer befindlichen Auslagekasten mit dem Horn aufspießte und davontrug. Es sind ein Paar neue Röhrenstiefel darinnen gewesen. Der Ochs lief hinauf zur Einsiedelei, wo er dann entkräftet zusammensank und von den Fleischhauersleuten aufgefunden wurde. Die Röhrenstiefel aber waren verschwunden. Um elf Uhr läutete die große Glocke, "Elfer" genannt, den Hauern auf dem Hagenberg zum Mittagessen, und nach und nach rückten jetzt die "Müllileut", die in die Stadt gefahren waren, wieder ein. Im Sommer konnte man zu den offenen Fenstern heraus das Tischgebet und Tellergeklapper hören. Die Nachmittage waren lustig. Es kam der "Sautreiber", schriftdeutsch Schweinehändler genannt, ließ seine lebende Ware unter unserem Fenster lagern; dann fuhr der Werkelmann auf. Er hatte sein feststehendes Programm: "Da draußt in Weidlingau, da is der Himmel blau!", dann: "Ach, ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküsst!" und den "Ach, Herr Jegerle".
Nach der Musik kam der "Bretzenmann". Er rief fünf oder sechs Arten dieses Gebäcks aus: "Kaiserbretzn", "Butterbretzn", "Zuckerbretzn", "Jungfernbretzn", "Herrschaftsbretzn". Sie waren alle aus einem Teig, bloß die Namen waren verschieden.
Dann wieder tauchte ein wilder Mann vor dem Fenster auf. Er hatte ein Gesicht von tausend Falten, einen struppigen, grauen Bart und rot geränderte Augen, die fortwährend tropften. Ein oft geflicktes und wieder zerrissenes Gewand schlenkerte um seinen Leib und aus den löcherigen Schuhen lugten die Zehen. Es war der alte Rauch, ein Armenhäusler. Der Mann schimpfte immer. Ob er daheim war oder auf der Gasse, das war ihm gleich, er schimpfte. Tat er dies auf der Straße, so war sofort ein Schwarm Buben hinter ihm her und schrie: "Rauch, Rauch! hast kann Buckl und kan Bauch!" Der Alte begann noch ärgerlicher zu schimpfen, dazu pfiff die Drossel vom Petrakschuster den "Feuerwehrmarsch", unterstützt von mehreren Hunden aus der Nachbarschaft.
In dieses Stilleben kam ein Wendepunkt. Ich saß nämlich nicht mehr auf dem Fensterbrett, sondern trieb mich schon im Hofe oder im Garten, wenn nicht gar auf der Gasse herum. Dadurch wurde ich zu einer Gefahr für jegliche Kreatur, ob es nun Ziegen, Katzen, Hühner oder Gänse waren. Daher sprach die Hausfrau ein Machtwort:
"Der Bua muaß ins Kloster! Er kräult überall auffi und stößt sich no amal s Gnack ab!"
Am anderen Morgen kaufte mir meine Mutter ein Kipfel und um zwei Kreuzer Ribisel und brachte mich durch diese Lockspeise "ins Kloster". So wurde die Kleinkinderbewahranstalt geheißen, weil sie von Nonnen geleitet worden ist. Es war ein uralter Bau mit dicken Mauern und stand an Stelle des heutigen "Elisabethinums".
Ich war nun meiner persönlichen Freiheit beraubt, und für zwei Kreuzer täglich Pensionär des frommen Heims geworden. Um diesem Zwang zu entrinnen, begann ich mich zu krümmen, wollte ein Häkchen werden, was aber von der braven Schwester Innozenz im Keime erstickt wurde. Worauf ich beinahe ein Musterknabe geworden bin.
Nach der Klosterzeit trat wieder ein Umschwung in meinem Leben ein: ich kam in die Schule. Sieben Jahre lang habe ich die Volksschule in meinem Heimatort besucht und drei Lehrer hatten sich mit mir geärgert. Der erste schnupfte "Tiroler mit Rapé", der zweite zog fort und der dritte ist auch schon gestorben.
Mit neun Jahren wandte ich mich der schönen Literatur zu. Mir war nämlich das von einem hohen Ministerium für Kultus und Unterricht approbierte Lesebuch zu fad geworden, und so suchte ich nach erfrischenderem Lesestoff. Ich habe solchen gefunden: "Die beiden Grasel", "Rinaldo Rinaldini, der edle Räuber", "Schinderhannes", "Der bayrische Hiasel" und eine Menge anderer edler Räuberromane. Nach genossener Lektüre legte ich mir den Plan zurecht: Wenn ich das nötige Alter erreicht haben würde, auch solch ein edler Räuber zu werden.
Wir waren wieder einmal umgezogen und wohnten jetzt in der "Eslgruabn". Das war ein idyllisches Gebäude mit einem kleinen Wirtshaus und einem langen, gartenähnlichen Hof, in dem mehrere Wohnungen sich befanden. Neben uns lebte ein alter Pensionist, dessen Bedienter ich wurde. Jeden Morgen musste ich für ihn ein Flascherl Rum, ein Schusterlaberl und die "Vorstadtzeitung" holen, die Schuhe putzen und seine Stube auskehren. Dafür bekam im täglich ein Vierkreuzerstückel und die Erlaubnis, seine Bibliothek benützen zu dürfen. Wenn ich mit der Zeitung nach Hause ging, pflegte ich immer den Leitartikel zu lesen, weil ich mich für die Politik besonders interessierte. Das hat einmal unser Herr Pfarrer gesehen und mich an Gottes Statt gebeutelt, weil in jener Zeit es den Kindern verboten war, die Zeitung zu lesen.
Himmel, was hatte mein Herr für eine Bibliothek! Außer den angeführten Räuberromanen waren da noch fünfunddreißig Kaiser-Josef-Romane. In jedem hatte der hohe Herr eine verborgene Geliebte mit einem süßen Pfand der Liebe. Hundert Bände der "Fünfkreuzerbibliothek" waren da, das "Große und echte ägyptisch-chaldäische Traumbuch, gedruckt zu Nuerenberg in dysem Jahr", ein Medizinbuch für eintausend und eine Krankheiten mit einer Anleitung für Geburtshilfe und das Bürgerliche Gesetzbuch. Und dies alles habe ich gelesen. Ich war schon in der höchsten Klasse, und wir mussten Aufsätze schreiben. Aufsätze waren mein Fall! Ich tat das, was die heutigen Kurzgeschichtenschreiber in den Zeitungen tun: Ich schrieb kühl ab. Und zwar aus den Werken der Bibliothek meines Herrn. Und weil gerade Osterferien waren, sagte unser Lehrer, es war der, der "Tiroler mit Rapé" schnupfte, wir sollten einen schönen Aufsatz schreiben: "Über das menschliche Leben in bezug zu den Feiertagen."
Also setzte im mich hin und schrieb am Ostersonntag einen Aufsatz: "Das menschliche Leben von der Wiege bis zum Sarge." Den Stoff, wie der Mensch bis zur Wiege kommt, hatte ich dem Geburtenanhang entnommen. Ich war nicht wenig stolz auf diesen Aufsatz, der zehn Thekenseiten ausfüllte. Also der Aufsatz war abgegeben, und am anderen Tag hielt mich der Herr Lehrer, der "Tiroler mit Rapé" schnupfte, nachdem die anderen die Klasse verließen, zurück. Er hielt mein Heft in der Hand.
"Sag mir einmal, wer hat dir denn diesen Unsinn diktiert?" fragte er.
Ich sah ihn empört an und sagte, es sei mein alleiniges Geistesprodukt. Und nachdem er weiterforschte, von woher ich dieses habe, erzählte ich ihm von der Bibliothek meines Herrn und der bisher genossenen Gesamtliteratur. Er schüttelte den Kopf, seinen, dann meinte er, s o l c h e Aufsätze dürfen Volksschüler nicht schreiben und solche Bücher sollten sie nicht lesen. Dann versprach er mir, er werde sich für mich verwenden, dass ich in eine Mittelschule komme und es im Leben zu mehr brächte als zu einem Taglöhner.
Und jetzt fand mein Schicksal, das sich bisher nicht viel um mich gekümmert hatte, dass es an der Zeit wäre, sich mit mir zu befassen. Und ich muss sagen, es hat sich mir gegenüber sehr unanständig benommen. Vorläufig ließ es meinen guten Lehrer sterben. Im Dorfe sagten die Leute wohl, der "Tiroler mit Rapé" hätte ihn umgebracht - ich wusste es besser.
Anstatt in die Mittelschule, marschierte ich nach Gumpendorf zu einem Schuster in die Lehre. Das Schicksal wollte nicht, dass ich etwa ein Dichter würde, daher steckte es mich unter die Schuster. Als Gegenleistung hat es vielIeicht einen Schuster unter die Dichter gesteckt.
In dem alten Haus in der Stumpergasse saß ein alter Meister, graubärtig wie Rübezahl und hochpolitisch veranlagt wie alle "kleinen Männer" in den achtziger Jahren. Dem Mann, der nun schon lange den Engeln die Schuhe doppelt, alIe Ehre! Er hat sich viele Mühe gegeben, mich in die Mysterien seiner Kunst einzuführen, aber ich besaß nicht das geringste Talent für das nahrhafte Schustergewerbe, und dann, dann quälte mich ein unaussprechliches Heimweh. Fort wolIte ich, fort aus der grauen Stadt und wieder zurück in mein grünes Dorf. Und ich hatte mir alIes schon überlegt: wenn der Alte abends ins Wirtshaus geht, rücke ich aus. Im brauche ja nur die Gasse hinaufzulaufen und dann auf der Hauptstraße weiter bis in meinen Heimatort. Und während ich noch so überlege, schau ich zum Fenster hinaus, aufs gegenüberliegende Gebäude. Dort steht in einer Nische der schmerzhafte Heiland mit der Dornenkrone. Er schaut gerade zu mir her aufs Schusterbankl, und da ist mir, als würde er sagen: "Schau mich an! Viele, viele Jahre stehe ich hier und klage nicht. Und du, weil du drei kurze Jahre hier bleiben solIst, spielst den Unglücklichen . . ." Da bin ich geblieben.
Endlich waren die drei Jahre um, als wären sie nie gewesen. Ade, Schusterei, es gab im Ort andere Arbeit, und zwar in den VilIengärten. Hier taugte ich. Unter Blumen, Pflanzen, Bäumen, ober mir die blaue Himmelsdecke, inmitten der duftigen Luft - nun war ich glücklich. Leider war der Verdienst gering. Ich ging in eine Fabrik und wurde Färber. Zehn lange Jahre war ich bei dieser schönfärberischen Tätigkeit. In diese Zeit fallen die bedenklichsten Ereignisse meines Lebens. Ich überlegte den Spruch des alten Sokrates: "Heirate oder heirate nicht, du wirst es immer bereuen!" Wenn ich schon bereuen muss, dann will ich lieber heiraten, philosophierte ich; wurde geheiratet und begann langsam ein allmählicher Familienvater zu werden. Ich hatte mir meine eigene Philosophie zurechtgelegt und kam damit sehr gut aus. Wenn ich meinen geplagten Chef betrachtete, wie er vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in Werkstatt und Büro tätig war, kam ich zur Erkenntnis, was für arme Narren wir beide waren. Ich quälte mich ab, um uns durchs armselige Leben zu bringen, mein Herr wieder, um sein erworbenes Gut nicht nur zu erhalten, sondern noch zu vermehren. Zwischen uns stand das Geld und lachte höhnisch. Und ich erkannte, dass wir beide vor lauter Vorbereitungen fürs Leben gar nicht dazukommen würden, den Sinn des Lebens zu erfassen.
Mit dieser etwas armseligen Philosophie gab ich mich zufrieden, bis ich eines Tages mit einem ehemaligen Arbeitskameraden zusammentraf. Der Mann strömte Wohlhabenheit aus und erzählte mir, er wäre ein Geschäftsdiener geworden und verdiene viel mehr als in der Fabrik. Dies wollte ich nun auch werden. Aber wie?
Und da muss mein bisher so ungemütliches Schicksal in sich gegangen sein und hat mir einen gescheiten Gedanken eingegeben: Ich nahm Tinte, Feder und Papier und schrieb einen Brief, in dem ich meinen bisherigen Lebenslauf schilderte und zuletzt den Wunsch aussprach, Geschäftsdiener zu werden. Den Brief sandte ich an den damals sehr beliebten Redakteur der "Volkszeitung", Rudolf Krassnigg, mit der Bitte, mir zu helfen, damit ich mein Ziel erreiche.
Der wackere Mann lud mich zu sich und fragte: "Vor alln andern: Habn S das selber gschriebn oder hats Ihnen wer eingsagt?"
Ich lachte und erzählte ihm die Geschichte von meinem Schulaufsatz aus dem Geburtenanhang, und wie der Lehrer genau so gefragt hatte. Krassnigg lachte mit und versprach mir, meinen Brief in ein Feuilleton umzuwandeln, forderte mich zugleich auf, ihm weitere schriftliche Arbeiten zu senden.
Ich war entdeckt! Die "Volkszeitung" brachte viele hunderte Skizzen von mir, zumeist im Wiener Dialekt, ein Kalenderverlag druckte sie viele Jahre hindurch nach, und in zahlreichen Zuschriften teilten mir die Leser ihre Zufriedenheit mit. Das vorliegende Buch aber enthält eine Auswahl meiner Skizzen und Erzählungen.
Keine vier Jahre war ich alt, starb mein Vater. Meine Mutter, sie war eine "Weißnäherin", begann den Kampf mit dem Dasein und mit mir. Sie hat in beiden Fällen den kürzeren gezogen. In der Wohnung, in der der Vater starb, mochte sie nicht mehr bleiben, also zogen wir wieder einmal aus. Nur einige HäuserIn weiter, ins Brücknerhaus. Hier stand ich gerne beim Haustor und sah und hörte, was um mich herum vorging. Drüben im "Schattingerhaus" saß der Petrakschuster an seinem Fenster, in einem grünen Rahmen von Blumen und einer Menge Vogelkäfigen, und klopfte seine Sohlen weich, was in den umliegenden Gässchen zu hören war. Gegenüber, beim Fleischhacker Fronz, wurde ein Ochs geschlagen. Einmal geschah es, dass der Knecht nicht gut traf, der Ochs ausriss, durch die Lange Gasse rannte, beim Bürgermeister, der auch ein Schuster war, den an der Mauer befindlichen Auslagekasten mit dem Horn aufspießte und davontrug. Es sind ein Paar neue Röhrenstiefel darinnen gewesen. Der Ochs lief hinauf zur Einsiedelei, wo er dann entkräftet zusammensank und von den Fleischhauersleuten aufgefunden wurde. Die Röhrenstiefel aber waren verschwunden. Um elf Uhr läutete die große Glocke, "Elfer" genannt, den Hauern auf dem Hagenberg zum Mittagessen, und nach und nach rückten jetzt die "Müllileut", die in die Stadt gefahren waren, wieder ein. Im Sommer konnte man zu den offenen Fenstern heraus das Tischgebet und Tellergeklapper hören. Die Nachmittage waren lustig. Es kam der "Sautreiber", schriftdeutsch Schweinehändler genannt, ließ seine lebende Ware unter unserem Fenster lagern; dann fuhr der Werkelmann auf. Er hatte sein feststehendes Programm: "Da draußt in Weidlingau, da is der Himmel blau!", dann: "Ach, ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküsst!" und den "Ach, Herr Jegerle".
Nach der Musik kam der "Bretzenmann". Er rief fünf oder sechs Arten dieses Gebäcks aus: "Kaiserbretzn", "Butterbretzn", "Zuckerbretzn", "Jungfernbretzn", "Herrschaftsbretzn". Sie waren alle aus einem Teig, bloß die Namen waren verschieden.
Dann wieder tauchte ein wilder Mann vor dem Fenster auf. Er hatte ein Gesicht von tausend Falten, einen struppigen, grauen Bart und rot geränderte Augen, die fortwährend tropften. Ein oft geflicktes und wieder zerrissenes Gewand schlenkerte um seinen Leib und aus den löcherigen Schuhen lugten die Zehen. Es war der alte Rauch, ein Armenhäusler. Der Mann schimpfte immer. Ob er daheim war oder auf der Gasse, das war ihm gleich, er schimpfte. Tat er dies auf der Straße, so war sofort ein Schwarm Buben hinter ihm her und schrie: "Rauch, Rauch! hast kann Buckl und kan Bauch!" Der Alte begann noch ärgerlicher zu schimpfen, dazu pfiff die Drossel vom Petrakschuster den "Feuerwehrmarsch", unterstützt von mehreren Hunden aus der Nachbarschaft.
In dieses Stilleben kam ein Wendepunkt. Ich saß nämlich nicht mehr auf dem Fensterbrett, sondern trieb mich schon im Hofe oder im Garten, wenn nicht gar auf der Gasse herum. Dadurch wurde ich zu einer Gefahr für jegliche Kreatur, ob es nun Ziegen, Katzen, Hühner oder Gänse waren. Daher sprach die Hausfrau ein Machtwort:
"Der Bua muaß ins Kloster! Er kräult überall auffi und stößt sich no amal s Gnack ab!"
Am anderen Morgen kaufte mir meine Mutter ein Kipfel und um zwei Kreuzer Ribisel und brachte mich durch diese Lockspeise "ins Kloster". So wurde die Kleinkinderbewahranstalt geheißen, weil sie von Nonnen geleitet worden ist. Es war ein uralter Bau mit dicken Mauern und stand an Stelle des heutigen "Elisabethinums".
Ich war nun meiner persönlichen Freiheit beraubt, und für zwei Kreuzer täglich Pensionär des frommen Heims geworden. Um diesem Zwang zu entrinnen, begann ich mich zu krümmen, wollte ein Häkchen werden, was aber von der braven Schwester Innozenz im Keime erstickt wurde. Worauf ich beinahe ein Musterknabe geworden bin.
Nach der Klosterzeit trat wieder ein Umschwung in meinem Leben ein: ich kam in die Schule. Sieben Jahre lang habe ich die Volksschule in meinem Heimatort besucht und drei Lehrer hatten sich mit mir geärgert. Der erste schnupfte "Tiroler mit Rapé", der zweite zog fort und der dritte ist auch schon gestorben.
Mit neun Jahren wandte ich mich der schönen Literatur zu. Mir war nämlich das von einem hohen Ministerium für Kultus und Unterricht approbierte Lesebuch zu fad geworden, und so suchte ich nach erfrischenderem Lesestoff. Ich habe solchen gefunden: "Die beiden Grasel", "Rinaldo Rinaldini, der edle Räuber", "Schinderhannes", "Der bayrische Hiasel" und eine Menge anderer edler Räuberromane. Nach genossener Lektüre legte ich mir den Plan zurecht: Wenn ich das nötige Alter erreicht haben würde, auch solch ein edler Räuber zu werden.
Wir waren wieder einmal umgezogen und wohnten jetzt in der "Eslgruabn". Das war ein idyllisches Gebäude mit einem kleinen Wirtshaus und einem langen, gartenähnlichen Hof, in dem mehrere Wohnungen sich befanden. Neben uns lebte ein alter Pensionist, dessen Bedienter ich wurde. Jeden Morgen musste ich für ihn ein Flascherl Rum, ein Schusterlaberl und die "Vorstadtzeitung" holen, die Schuhe putzen und seine Stube auskehren. Dafür bekam im täglich ein Vierkreuzerstückel und die Erlaubnis, seine Bibliothek benützen zu dürfen. Wenn ich mit der Zeitung nach Hause ging, pflegte ich immer den Leitartikel zu lesen, weil ich mich für die Politik besonders interessierte. Das hat einmal unser Herr Pfarrer gesehen und mich an Gottes Statt gebeutelt, weil in jener Zeit es den Kindern verboten war, die Zeitung zu lesen.
Himmel, was hatte mein Herr für eine Bibliothek! Außer den angeführten Räuberromanen waren da noch fünfunddreißig Kaiser-Josef-Romane. In jedem hatte der hohe Herr eine verborgene Geliebte mit einem süßen Pfand der Liebe. Hundert Bände der "Fünfkreuzerbibliothek" waren da, das "Große und echte ägyptisch-chaldäische Traumbuch, gedruckt zu Nuerenberg in dysem Jahr", ein Medizinbuch für eintausend und eine Krankheiten mit einer Anleitung für Geburtshilfe und das Bürgerliche Gesetzbuch. Und dies alles habe ich gelesen. Ich war schon in der höchsten Klasse, und wir mussten Aufsätze schreiben. Aufsätze waren mein Fall! Ich tat das, was die heutigen Kurzgeschichtenschreiber in den Zeitungen tun: Ich schrieb kühl ab. Und zwar aus den Werken der Bibliothek meines Herrn. Und weil gerade Osterferien waren, sagte unser Lehrer, es war der, der "Tiroler mit Rapé" schnupfte, wir sollten einen schönen Aufsatz schreiben: "Über das menschliche Leben in bezug zu den Feiertagen."
Also setzte im mich hin und schrieb am Ostersonntag einen Aufsatz: "Das menschliche Leben von der Wiege bis zum Sarge." Den Stoff, wie der Mensch bis zur Wiege kommt, hatte ich dem Geburtenanhang entnommen. Ich war nicht wenig stolz auf diesen Aufsatz, der zehn Thekenseiten ausfüllte. Also der Aufsatz war abgegeben, und am anderen Tag hielt mich der Herr Lehrer, der "Tiroler mit Rapé" schnupfte, nachdem die anderen die Klasse verließen, zurück. Er hielt mein Heft in der Hand.
"Sag mir einmal, wer hat dir denn diesen Unsinn diktiert?" fragte er.
Ich sah ihn empört an und sagte, es sei mein alleiniges Geistesprodukt. Und nachdem er weiterforschte, von woher ich dieses habe, erzählte ich ihm von der Bibliothek meines Herrn und der bisher genossenen Gesamtliteratur. Er schüttelte den Kopf, seinen, dann meinte er, s o l c h e Aufsätze dürfen Volksschüler nicht schreiben und solche Bücher sollten sie nicht lesen. Dann versprach er mir, er werde sich für mich verwenden, dass ich in eine Mittelschule komme und es im Leben zu mehr brächte als zu einem Taglöhner.
Und jetzt fand mein Schicksal, das sich bisher nicht viel um mich gekümmert hatte, dass es an der Zeit wäre, sich mit mir zu befassen. Und ich muss sagen, es hat sich mir gegenüber sehr unanständig benommen. Vorläufig ließ es meinen guten Lehrer sterben. Im Dorfe sagten die Leute wohl, der "Tiroler mit Rapé" hätte ihn umgebracht - ich wusste es besser.
Anstatt in die Mittelschule, marschierte ich nach Gumpendorf zu einem Schuster in die Lehre. Das Schicksal wollte nicht, dass ich etwa ein Dichter würde, daher steckte es mich unter die Schuster. Als Gegenleistung hat es vielIeicht einen Schuster unter die Dichter gesteckt.
In dem alten Haus in der Stumpergasse saß ein alter Meister, graubärtig wie Rübezahl und hochpolitisch veranlagt wie alle "kleinen Männer" in den achtziger Jahren. Dem Mann, der nun schon lange den Engeln die Schuhe doppelt, alIe Ehre! Er hat sich viele Mühe gegeben, mich in die Mysterien seiner Kunst einzuführen, aber ich besaß nicht das geringste Talent für das nahrhafte Schustergewerbe, und dann, dann quälte mich ein unaussprechliches Heimweh. Fort wolIte ich, fort aus der grauen Stadt und wieder zurück in mein grünes Dorf. Und ich hatte mir alIes schon überlegt: wenn der Alte abends ins Wirtshaus geht, rücke ich aus. Im brauche ja nur die Gasse hinaufzulaufen und dann auf der Hauptstraße weiter bis in meinen Heimatort. Und während ich noch so überlege, schau ich zum Fenster hinaus, aufs gegenüberliegende Gebäude. Dort steht in einer Nische der schmerzhafte Heiland mit der Dornenkrone. Er schaut gerade zu mir her aufs Schusterbankl, und da ist mir, als würde er sagen: "Schau mich an! Viele, viele Jahre stehe ich hier und klage nicht. Und du, weil du drei kurze Jahre hier bleiben solIst, spielst den Unglücklichen . . ." Da bin ich geblieben.
Endlich waren die drei Jahre um, als wären sie nie gewesen. Ade, Schusterei, es gab im Ort andere Arbeit, und zwar in den VilIengärten. Hier taugte ich. Unter Blumen, Pflanzen, Bäumen, ober mir die blaue Himmelsdecke, inmitten der duftigen Luft - nun war ich glücklich. Leider war der Verdienst gering. Ich ging in eine Fabrik und wurde Färber. Zehn lange Jahre war ich bei dieser schönfärberischen Tätigkeit. In diese Zeit fallen die bedenklichsten Ereignisse meines Lebens. Ich überlegte den Spruch des alten Sokrates: "Heirate oder heirate nicht, du wirst es immer bereuen!" Wenn ich schon bereuen muss, dann will ich lieber heiraten, philosophierte ich; wurde geheiratet und begann langsam ein allmählicher Familienvater zu werden. Ich hatte mir meine eigene Philosophie zurechtgelegt und kam damit sehr gut aus. Wenn ich meinen geplagten Chef betrachtete, wie er vom frühen Morgen bis in die späte Nacht in Werkstatt und Büro tätig war, kam ich zur Erkenntnis, was für arme Narren wir beide waren. Ich quälte mich ab, um uns durchs armselige Leben zu bringen, mein Herr wieder, um sein erworbenes Gut nicht nur zu erhalten, sondern noch zu vermehren. Zwischen uns stand das Geld und lachte höhnisch. Und ich erkannte, dass wir beide vor lauter Vorbereitungen fürs Leben gar nicht dazukommen würden, den Sinn des Lebens zu erfassen.
Mit dieser etwas armseligen Philosophie gab ich mich zufrieden, bis ich eines Tages mit einem ehemaligen Arbeitskameraden zusammentraf. Der Mann strömte Wohlhabenheit aus und erzählte mir, er wäre ein Geschäftsdiener geworden und verdiene viel mehr als in der Fabrik. Dies wollte ich nun auch werden. Aber wie?
Und da muss mein bisher so ungemütliches Schicksal in sich gegangen sein und hat mir einen gescheiten Gedanken eingegeben: Ich nahm Tinte, Feder und Papier und schrieb einen Brief, in dem ich meinen bisherigen Lebenslauf schilderte und zuletzt den Wunsch aussprach, Geschäftsdiener zu werden. Den Brief sandte ich an den damals sehr beliebten Redakteur der "Volkszeitung", Rudolf Krassnigg, mit der Bitte, mir zu helfen, damit ich mein Ziel erreiche.
Der wackere Mann lud mich zu sich und fragte: "Vor alln andern: Habn S das selber gschriebn oder hats Ihnen wer eingsagt?"
Ich lachte und erzählte ihm die Geschichte von meinem Schulaufsatz aus dem Geburtenanhang, und wie der Lehrer genau so gefragt hatte. Krassnigg lachte mit und versprach mir, meinen Brief in ein Feuilleton umzuwandeln, forderte mich zugleich auf, ihm weitere schriftliche Arbeiten zu senden.
Ich war entdeckt! Die "Volkszeitung" brachte viele hunderte Skizzen von mir, zumeist im Wiener Dialekt, ein Kalenderverlag druckte sie viele Jahre hindurch nach, und in zahlreichen Zuschriften teilten mir die Leser ihre Zufriedenheit mit. Das vorliegende Buch aber enthält eine Auswahl meiner Skizzen und Erzählungen.