Die früheste Erwähnung Wiens
Übertragung eines Beitrages von Universitätsprofessor Dr. Hans Voltelini in der Neuen Freien Presse vom 23. März 1922
23.03.1922
Auch heute noch geschehen Zeichen und Wunder. Entdeckungen gibt es nicht nur auf dem Boden der Naturwissenschaften, sie fehlen auch in der Geschichte nicht. Die ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts sind besonders reich daran gewesen. Der Kardinal Angelo Mai fand in der Vaticana die Schrift des Cicero über den Staat, Niebuhr, in der Domkapitelbibliothek zu Verona den echten Text des Gajus, beide Funde von unermeßlicher Bedeutung für die Geschichte Roms und seines Rechtes in der klassischen Zeit. Die Arbeiten der Monumenta Germaniae brachten so manche bisher unbekannte Quelle zur mittelalterlichen Geschichte ans Tageslicht. Dann folgten in den letzten Jahrzehnten die Papyrusfunde in Aegypten. Sie schenkten uns nicht nur die Schrift des Aristoteles über den Staat der Athener und andere Bruchstücke des antiken Schrifttums, sondern auch Tausende von Urkunden, die über die Kultur, Wirtschaft und Recht des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit ein völlig neues Licht verbreitenden. Jüngst hat man in einer Münchner Handschrift, einen Brief Karls des Großen gefunden, und nun entdeckt ein junger, kaum der Schulbank entwachsener österreichischer Gelehrter, Herr Ernst Klebel, in einer Handschrift der Stiftsbibliothek von Admont ein bisher unbekanntes Jahrbuch des neunten und zehnten Jahrhunderts, das in Salzburg abgefaßt worden ist. Nicht in einem Palimpsest, das ist einer Handschrift, deren ältere Schrift weggekratzt worden ist, um sie neuerlich zu beschreiben, wie jener Brief Karl des Großen, der unter Einwirkung von ultravioletten Strahlen wieder lesbar gemacht worden ist, sondern in einer Handschrift des zwölften Jahrhunderts, nachdem Gelehrte, wie Mattenbach und Uhlirz alle Denkmäler der österreichischen Annalen längst durchforstet zu haben glaubten.
Nach Art der karolingischen Jahrbücher enthalten auch die neu gefundenen nur knappe Nachrichten. Aber da wir über unsere Gegenden für diese Zeit so mangelhaft unterrichtet sind, danken wir für jede noch so karge Aufklärung. Und unsere Quelle bietet des Neuen genug. Nachrichten, die wie ein Blitz das Dunkel dieser Jahrhunderte erleuchten, über die Gründung des Erzstiftes Salzburg, über das Verhältnis Bayerns zum Frankenreich, über die Kämpfe mit den Magyaren usw. So erfahren wir, daß die große für den bayrischen Heerbann verhängnisvolle Ungarnschlacht von 907 bei Preßburg stattgefunden hat, das sich somit als eine karolingische Gründung ergibt.
In diesem Zusammenhang geschieht auch Wiens Erwähnung. Zum Jahre 881 melden die Jahrbücher einen Kampf mit den Ungarn bei Wenia. Es ist kein Zweifel, daß damit unser Wien gemeint ist, denn sprachlich ergab sich aus Wenia, Wiene und Wien. Bisher wußte man nur, daß Wien im Jahre 1030 das erstemal genannt werde, als bei Wien das deutsche Heer auf dem Rückzug von einem verunglückten Kriegszug nach Ungarn durch die Magyaren zum großen Teil gefangen wurde. Wenn nunmehr Wien hundertfünfzig Jahre früher auftaucht, so ist sein Bestand für die karolingische Zeit gesichert und vor den Magyareneinbruch zurückverlegt. Die Tatsache ist von der größten Bedeutung für die Frage der Anfänge von Wien. Darüber gehen ja die Meinungen auseinander. Ist das mittelalterliche Wien die Fortsetzung des keltisch-römischen Vindobona oder erst eine mittelalterliche Gründung auf den Trümmern der Römerreste? Sehr vieles schien für das erste zu sprechen. Nunmehr ist allerdings der Abstand zwischen der letzteren Erwähnung Vindobonas und der ersten Wiens um anderthalb Jahrhunderte verkürzt worden. Das Wort haben nunmehr die Philologen. Hängt Wenia mit Vindobona sprachlich zusammen oder wenigstens mit der ersten Silbe des römischen Namens, liegt da eine keltische Wurzel zugrunde, die in anderen keltischen Ortsnamen wiederzukehren scheint, oder ist der Name des Flusses auf die Stadt übertragen worden? Eine städtische Siedlung ist 881 kaum vorhanden gewesen. Städte wurden in fränkischer Zeit als Burgen bezeichnet, da sie vorwiegend als Festungen in Betracht kamen. Noch das Nibelungenlied nennt Städte, wie zum Beispiel Worms, in seinen älteren Teilen Burgen. Und so findet sich das Wort Burg denn auch häufig in alten Stadtnamen: Straßburg, Würzburg, Augsburg, Regensburg, Salzburg, Magdeburg, in unseren Gegenden in Ennsburg, Hainburg, Preßburg (nach unserer Quelle Brezalauspure, bis nach Oedenburg und Wieselburg hinab in das heute gewiß nicht glücklich sogenannte Burgenland. Allerdings nicht ausnahmslos, es sei nur an Köln, Mainz, Passau erinnert. Das eine ist sicher, daß die Nordwestmauer der mittelalterlichen Stadt Wien hinter der Mauer des Römerkastells zurücklag. Ist das römische Vindobona zerstört worden, so muß hier die Bresche gewesen sein, durch welche die Eroberer eindrangen. Noch eines. Das römische Vindobona war eine Festung, die Zivilstadt lag weit draußen auf der Höhe des dritten und vierten Gemeindebezirkes. Immer kann es sich nur um eine Ansiedlung innerhalb der Bauten des Römerkastells gehandelt haben, wie noch heute die Araber im algerischen Auresgebirge vielfach in Römerbauten hausen.
In diesem Zusammenhänge muß auch die Frage nach der Errichtung der ältesten Kirchen Wiens, zu St. Ruprecht und St. Peter, einer neuen Erwägung unterzogen werden. An der Südostwand der Peterskirche hat man vor einigen Jahren die Gründung dieser Kirche durch Karl den Großen und Erzbischof Arn von Salzburg im Relief vereinigt. Es bestand aber keine Überlieferung derart im Mittelalter. Erst der Hofhistoriograph Kaiser Ferdinand I., Wolfgang Lazius, hat im sechzehnten Jahrhundert durch gelehrte Kombinationen diese Gründungssage in die Welt gesetzt. Die Kirche von St. Ruprecht steht auf römischen Fundamenten, Ruprecht und Peter sind die Patrone des Erzstiftes Salzburg. So weisen diese Namen auf eine Anteilnahme Salzburgs an ihrer Anlage hin. Wann diese erfolgte, bleibt nach wie vor im Dunkel. Seitdem der Bestand Wiens in der Karolingerzeit erwiesen ist, wird man die Annahme einer karolingischen Gründung nicht mehr völlig in Abrede stellen können, aber es wäre auch eine spätere Entstehung denkbar und die späte Gründung von St. Stephan im Jahre 1137 durch den Bischof von Passau außerhalb der Mauern der ältesten Stadt als Pfarre für die Stadt Wien und eine weite Umgebung erscheint wie ein Gegenzug des Diözesanbischofs gegen diese Salzburger Gründungen, die also nicht so weit zurückliegen werden.
So bietet der neue Fund wichtige Aufschlüsse, aber wie meist in der Wissenschaft, regt er noch mehr Fragen an.