Philosophie des Überflüssigen
Vom Gipfelschnee zur Eisdiele
18.04.2018
Es gibt Überflüssiges im Sinne von absolut entbehrlich. Skilifte in Ober St. Veit, zu schnelle Autos in den 30er-Zonen und ignorierte E-Mails werden gerne dafür gehalten. Doch auf der Suche nach dem Notwendigen kommt der Verdacht, dass das Überflüssige und das Notwendige oft dasselbe sind. Die Bushaltestellen Angermayergasse und Einsiedeleigasse etwa. Sie liegen in Wurfdistanz, aber keine ist wegzudenken. Ein prominentes Beispiel ist das Eis, das Speiseeis, um genau zu sein. Das Eis nimmt die Metapher vom Überflüssigen sogar wörtlich, denn wer sein Eis zu langsam schleckt, der braucht ein neues Gewand.
Das Gefrorene, die Glace, das Gelato ist nicht nur ein Produkt findiger Confiseure und Geschäftsleute, es ist Technikgeschichte, Physik und Chemie in einem. Eis ist aber auch Kulturgeschichte, nachzulesen in unzähligen Reiseberichten aus aller Welt. Bei Marco Polo zum Beispiel erfährt man, dass die Chinesen schon vor 3000 Jahren Eis gegessen hatten.
Fast alle Beiträge über die Geschichte des Speiseeises erzählen auch von Kaiser Nero (37–68 n. Chr.) und seiner Vorliebe für Eis. Sie soll das älteste Beispiel einer Just-in-time-Zustellung sein. Hier eine Version: Kaiser Nero wollte jeweils um 13:30 Uhr ein taubeneigroßes Eis zum Nachtisch (vielleicht mit ein paar Erdbeeren rundherum). Also hackte um 7:00 Uhr der Startläufer der kaiserlichen Stafette ein kühlschrankgroßes Stück Eis aus einem Gipfelgletscher in den Bergen hoch über Rom. Er lief los, übergab es dem nächsten Läufer, der es dem übernächsten übergab, und so weiter. Der Eisklotz schmolz vor sich hin – hinter den Läufern eine breite Wasserspur – und wurde so groß wie ein Saurierei, ein Krokodilei, ein Straußenei, ein Pinguinei, ein Truthennenei, ein Hühnerei, bis der Schlussläufer, der als einziger eine piekfeine Kellnertoga trug, mit dem nunmehr taubeneikleinen Eisding in den Speisesaal schritt und es mit einer artigen Verbeugung vor Kaiser Nero hinstellte. Der dachte gerade darüber nach, wie Rom aussehen würde, wenn es in Flammen stünde, und hatte keine Lust auf Eis. Als dieses ganz geschmolzen war, patschte er mit seinen Händen ein bisschen in dem Wasser herum und leckte die Finger ab.
Bis ins 16. Jahrhundert war das Natureis die Basis jeder Kühlung. Dann begann die Entdeckung des Abkühlens von Wasser durch die Zugabe von Salpeter auch in den praktischen Gebrauch einzufließen. Die Unabhängigkeit von den Kräften der Natur brachte aber erst Carl von Lindes 1877 patentierte Ammoniakkältemaschine.
Um 1800 gehörte das Eisessen nicht mehr zu den Privilegien der Reichen, sondern war eine Art Volksvergnügen geworden. Der Schriftsteller Johann Pezzi schreibt in seiner Skizze von Wien: Die Limonadehütten sind Zelte auf offenen Plätzen, welche in den Sommermonaten aufgeschlagen werden und wo man das Publikum mit Limonade, Mandelmilch, Gefrorenem aller Gattungen usw. bedient... Man setzt sich in der trauten Dämmerung zusammen, schlürft seinen Becher Gefrorenes, scherzt, lacht, tändelt, liebelt und ruht von der Hitze des Tages, von der Last der Geschäfte oder von Ermüdungen angenehmerer Art aus. Das Glas Limonade kostet 7 Kreuzer, der Becher Gefrorenes zwischen 12 und 30 Kreuzer. Die Gattungen der letzten Erfrischung sind sehr mannigfaltig: Man macht es aus Pomeranzen, Limonen, Weichseln, Erdbeeren, Ribiseln, Pfirsichen, Ananas, Mandeln, aus Vanille, Schokolade usw.
Den Weg zu den heute so zahlreichen Eisgeschäften begann Antonio Tomea Bareta aus Zoppé zu ebnen. 1865 erhält er die Erlaubnis, in Wien Eis zu verkaufen. Er hatte zuvor Maroni und Maisgebäck (chalet) in Norditalien verkauft, und nach dem gleichen Schema organisierte er auch den Verkauf des „Gefrorenen“: Das Eis wurde an einem Ort produziert, und carrettini schwärmten mit ihren Eiswägen in der ganzen Stadt aus. Es war ein großer Erfolg: Als Bareta 1874 nach Leipzig ging, hatte er bereits um die fünfzig Eiswagenlizenzen, die er dann vor allem an seine nächsten Landsleute (Zoldani oder Cadorini aus dem Val di Zoldo) weitergab.
Den Konditoren war diese Konkurrenz weniger willkommen. Schließlich erreichten sie es, dass Eisverkäufer einen festen Sitz haben mussten. Die gelatieri, die sich ein eigenes Geschäft nicht leisten konnten oder wollten, mieteten ein Zimmer im Erdgeschoss und verkauften aus dem Fenster heraus. Damit die treueste Kundschaft, die Kinder, aufs Eis sehen konnten, brachte man einen Holztritt an der Mauer an, eine Diele: die Eisdiele.
Das Speiseeis, dessen Schwerpunkt sich vom mit allerhand Zusätzen versehenen wässrigen Eis zu gefrorenen Milchprodukten verlagerte, ist zu einer unwiderstehlichen Süßspeise geworden. Seine Herstellung beginnt meist mit einer Englischen Creme, die man durch Erhitzen einer Mischung aus Eigelb, Milch, Zucker und eventuell etwas Vanille erhält. Dazu kommen Früchte und mittlerweile unglaublich viele andere Zutaten, selbst solche, die man mit Süßspeisen nie in Zusammenhang bringen würde. Das Ganze wird dann in einer Eismaschine gekühlt. Beim Abkühlen kristallisieren Wasser und Fettanteile, wobei es auf die Kristallgröße ankommt: Diese wird umso kleiner und das Eis umso weicher, je schneller man abkühlt. Durch das Rührgerät kommen Luftbläschen hinzu, die Masse „geht auf“.
In Hietzing ist der Genuss handgemachten Eises eng mit dem Namen Della Lucia verbunden. Ein Foto aus dem Jahr 1930 zeigt die Brüder Ezio und Luigi Della Lucia vor ihrem Eissalon in Wien. In Lehmanns Häuserverzeichnis ist aber erst ab 1935 eine Zuckerbäckerei dieses Names zu finden, und zwar diejenige des Ungher Della Lucia in der Hietzinger Hauptstraße 8. 1938 werden bereits drei Della Lucia aufgelistet, betrieben von Alois Lucia in der Mariahilferstraße 109, Ezio Lucia in der Hütteldorfer Straße 70 und Ungher Lucia in der Hietzinger Hauptstraße 8.
So, und jetzt probieren wir einen Bogen von den Carpigiani-Brüdern, die 1944 in Bologna die erste automatische Speiseeismaschine und damit eine wesentliche Erleichterung in der Eiserzeugung konstruierten, nach Ober St. Veit. Die Brüder gründeten 1946 ihr Unternehmen, die spätere Carpigiani-Gruppe, und begannen irgendwann auch, die Kunst des Eismachens zu lehren. 2003 öffnete die Carpigiani Gelato Universität in Bologna ihre Pforten. Sie soll vor allem ausländischen Studenten die Kunst der Herstellung italienischer Eiscreme vermitteln. Ungefähr 12.000 Studenten haben das bisher in Anspruch genommen, zwei davon waren Anton und Irina Rusnak, Inhaber der 2017 gegründeten „Anton's Tafel“ in Wien Ober St. Veit, Hietzinger Hauptstraße 174.
Anton und seine Frau Irina sind mit ihren Eiskreationen an der Spitze des Trends zu hochwertigsten Eissorten. Sie verarbeiten so wenig Zucker wie nötig, die Süße soll von den vollreifen Früchten kommen. Konservierungsstoffe, Geschmacksverstärker & Farbstoffe etc. gibt es in „Antons Eiswelt“ nicht. Die Liebe gilt außergewöhnlichen Kreationen, auch mit sauer-salzig-herben Geschmacksnuancen bis hin zu skurrilen Extravaganzen.
Das frühere Angebot von offenem Eis in Ober St. Veit ist relativ überschaubar. Es war das Café Zinsler in der Hietzinger Hauptstraße 172, also im Nebenhaus zu Anton's Tafel, das hier als erstes selbst gemachtes Eis anbot. In gugelhupfartig geformten Waffeln konnte man es auch mitnehmen. Gegen Ende der 1960er-Jahre wurde das Lokal geschlossen. In der jüngeren Vergangenheit war und ist es die Bäckerei Schwarz, die in einzelnen Filialen auch offenes Eis anbietet.
Eine Chronik zum Speiseeis finden Sie HIER.