Die ersten Fabriken Ober St. Veits

1833

Von der frühesten Zeit bis ins Jahr 1820 - siehe den Beitrag "Ein Amtsweg durch St. Veit vor 235 Jahren, als die Häuser Nummern bekamen" - war (Ober) St. Veit ein Weinbauerndorf mit relativ wenig anderem Gewerbe. Der St. Veiter Wein war von mittlerer Qualität beziehungsweise „nur in guten Jahren wohlschmeckend“. Zu wenig, um den Weinbau in St. Veit die Bedrohungen der folgenden Jahrzehnte überdauern zu lassen. Zum einen vernichteten Trockenheit, Krankheiten und schließlich die Reblaus viele Kulturen, zum anderen versprach die wachsende Nachfrage nach Milchprodukten leichteren Gewinn. War die Weinbaufläche zumindest bis 1820 mit rd. 120 Joch (1 Joch = ca. 5600m²) relativ konstant, betrug sie 1891 nur mehr 20 Joch. In wenigen Jahrzehnten verschwand, was die Jahrhunderte überdauert hatte!

Aber das Land war schön und das prosperierende Wien sandte seine Boten. In vielen Häusern entstanden Wohnungen für Sommergäste und für Zuwanderer aus anderen Teilen der Monarchie. Der Ansturm der Ausflügler ließ die Gastronomie erblühen, der Wein kam jetzt aus Mauer, Perchtoldsdorf oder sonst wo her. So mancher der Gäste blieb und setzte seine Villa ins grüne Land.

Es hatte mit hoher Dynamik begonnen, was 150 Jahre später mit der flächendeckenden Nutzung des Landes durch alle Facetten des Wohnbaues enden sollte, von genossenschaftlich-sozial bis individuell-luxuriös. Eine fortgesetzte Entwicklung mit Unterbrechungen während der und zwischen den Weltkriegen, aber auch mit einem „Zwischenspiel“: Dem Gewerbe und der Industrie.

Der Vorbote industrieller Ansiedelungen war eine Mühle, und zwar die sogenannte „Neumühle“ an der Auhofstraße, Konskriptionsnummer 135 (heute Höhe Auhofstraße 118). Sie hatte einen eigenen, bei Hacking aus dem Wienfluss abgeleiteten Mühlbach, der sich in Höhe Preindlgasse mit dem Mühlbach zur Feldmühle vereinigte. Ein Stück von ihm wurde zur Bergenstammgasse.

Diese Ansicht St. Veits zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigt drei markante Gebäude: Kirche und Schloss St. Veit links im Hintergrund, Schloss Hacking rechts im Hintergrund und die vor kurzem errichtete Neumühle rechts im Vordergrund. Der ersichtliche Weg ist die heutige Auhofstraße als damals wichtigste Verbindung nach Hietzing, der Bach davor ist keineswegs ein Arm des Wienflusses sondern der Mühlbach. Das Gebäude der Neumühle wurde zur ersten industriellen Ansiedelung in St. Veit. © Wienmuseum
<p>Diese Ansicht St. Veits zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigt drei markante Gebäude: Kirche und Schloss St. Veit links im Hintergrund, Schloss Hacking rechts im Hintergrund und die vor kurzem errichtete Neumühle rechts im Vordergrund. Der ersichtliche Weg ist die heutige Auhofstraße als damals wichtigste Verbindung nach Hietzing, der Bach davor ist keineswegs ein Arm des Wienflusses sondern der Mühlbach. Das Gebäude der Neumühle wurde zur ersten industriellen Ansiedelung in St. Veit. </p><p><i>&copy; Wienmuseum</i></p>
Dieses Bild zeigt das Gebäude der Neumühle im Franziszeischen Katasterplan aus 1819 (im roten Kreis). Der rote Punkt markiert den ungefähren Standort des Betrachters im Bild oben.
<p>Dieses Bild zeigt das Gebäude der Neumühle im Franziszeischen Katasterplan aus 1819 (im roten Kreis). Der rote Punkt markiert den ungefähren Standort des Betrachters im Bild oben. </p>
Ein Exote in dieser Region: Alle anderen Mühlen des Wientals stammten aus dem Mittelalter, sie aber wurde von Müllermeister Andreas und seiner Frau Magdalena Mayer um das Jahr 1803 erbaut. Schon die grundbücherlich vermerkte Verpflichtung, dem Mühlbach zur Feldmühle weder Wasser noch Kraft zu entziehen und für Schäden zu haften, deutet das Spannungsverhältnis zwischen den „Neumüllern“ und den eingesessenen Mühlenbetreibern an. Wirtschaftlich dürfte die Neumühle ein „Flop“ gewesen sein (wahrscheinlich war sie schon für damalige Verhältnisse zu klein), denn sie wechselte in den folgenden drei Jahrzehnten viermal den Besitzer, wobei sich der Kaufpreis von 11.400 Gulden auf einen Bruchteil dessen verringerte. Der von 1811 bis 1833 „dienende“ Müller, Herr Michael Pfannel, war initiativ und streitbar und hielt sich am längsten. Er war aber der letzte seiner Zunft in Ober St. Veit und verkaufte an einen Branchenfremden. Der Weg war frei für die erste Fabrik in Ober St. Veit.

1833 erstanden Maximilian Joseph und Franziska Kattner das Areal und errichteten in dem Gebäude der Neumühle eine Schokoladeproduktion. Ab 1835 hatte der Betrieb der Größe wegen eine Landesfabriksbefugnis und war als „k.k. priv. St. Veiter Maschin Chocolade Fabrik M. Kattner“ handelsgerichtlich protokolliert. Nach dem frühen Tod Herrn Kattners im Jahre 1839 wurde über das Vermögen der Konkurs eröffnet und die Neumühle ging auf dem Versteigerungsweg an Herrn Heinrich Wilhelm von Wertheimstein. Im Grundbuch wurde der Kauf allerdings erst 1843 eingetragen, mit einer Frau Regina Simon als Vorbesitzerin schon seit 1836. Den Betrieb wollte die Witwe Franziska Kattner weiterführen, offensichtlich im Mietverhältnis. Nach einem langen Kampf in nahezu auswegloser Situation - sogar die Fabriksbefugnis ging verloren - erhält sie 1845 eine neue, auf sie lautende Befugnis zur Schokoladeerzeugung, protokolliert als „Maschin-Schokoladefabrik Franziska Kattner“. Nach wie vor hatte sie ihren Betrieb im ehemaligen Mühlengebäude des Herrn von Wertheimstein, der dies laut Protokoll zu einem später erörterten Streit um den Mühlbach nur aus „Menschenfreundlichkeit“ so beließ.

Heinrich von Wertheimstein seinerseits erhielt 1839, im Jahr der Ersteigerung der Liegenschaft, eine Landesfabriksbefugnis für eine Zuckerraffinerie in Ober St. Veit und errichtete dafür neue Gebäude. Diese Zuckerfabrik muss eine der ersten in unserer Region gewesen sein, also ein großes Experiment. Jedoch kann der Betrieb schon angesichts der untauglichen Verkehrsanbindung keine wirkliche Überlebenschance gehabt haben.
Aquarell von Studenten des Polytechnikums mit der Zuckerfabrik um das Jahr 1850. Ersichtlich ist die Gebäudefront zur Auhofstraße. © Wiener Stadt- und Landesarchiv
<p>Aquarell von Studenten des Polytechnikums mit der Zuckerfabrik um das Jahr 1850. Ersichtlich ist die Gebäudefront zur Auhofstraße.</p><p><i>&copy; Wiener Stadt- und Landesarchiv</i></p>
Die Übereinstimmung der Bilder oben und unten ist nur teilweise, Fassade und die Anzahl der Fensterachsen des linken Gebäudes stimmen allerdings überein.
Ein Teil der Kümmerlhäuser in der Auhofstraße 118 im Jahre 1933.
<p>Ein Teil der Kümmerlhäuser in der Auhofstraße 118 im Jahre 1933.</p>

Im Februar 1851 waren in der Zuckerfabrik 42 und in der Schokoladefabrik nur mehr 2 Arbeiter beschäftigt. 1853 endeten die Eintragungen im Handelsgerichts-Akt zur Schokoladefabrik. 1859, im Todesjahr des Herrn von Wertheimstein soll auch die Zuckerraffinerie schon lange nicht mehr in Betrieb gestanden sein. Schon vorher, 1848, wurde sie dem Grundbuch zufolge von Baron Salomon Meyer von Rothschild, dem Proponenten des Wiener Rothschildzweiges, erworben und der verkaufte das Objekt 1860 an die Eheleute Jakob und Friederike Minor und - jetzt kommen sie ins Spiel - Johann Kaspar und Barbara Kümmerle. Die Maschinen gab es 1860 noch, sie wurden bis nach dem Verkauf auf der Liegenschaft gelagert, dann abtransportiert. Zu einer genaueren Chronik der Schokoladefabrik und der Zuckerraffinerie kommen Sie HIER.
 
Die zweite Ober St. Veiter Fabrik entstand auf dem Platz daneben: Als Benjamin Spitzer, Israelit aus Nikolsburg, 1836 die einfache Fabriksbefugnis für Cottondruckwaren verliehen wurde, hatte er schon die Adresse Ober St. Veit Nº (Konskriptionsnummer) 139. Dort hatte er aus der Hutweide der Gemeinde Ober St. Veit das Grundstück zwischen dem Haus Nº 134 und der Mühle auf Nº 135 gekauft und darauf ein Fabriksgebäude errichtet. Der Kauf des Grundstückes wurde 1837 ins Grundbuch eingetragen. Noch 1836 erreichte er die Umwandlung der einfachen in eine Landesfabriksbefugnis (mit der Auflage, nur christliche Arbeiter einzustellen).

1848 erwarb er auch das Haus Nº 134 der Weinhauerswitwe Katharina Banderer. 1849 nahm er seinen Sohn Johann Spitzer als Gesellschafter auf. Berühmter wurde allerdings Daniel Spitzer, der zweite Sohn Benjamins. Der zeigte einen „Offenen, für die Wissenschaften zugänglichen“ Kopf und brachte es zu einem der bekanntesten Wiener Feuilletonisten. Seiner Biografie verdanken wir den einzigen Hinweis über den Erfolg der väterlichen Druckfabrik: Der anfangs gutgehenden Druckerei soll schon ab 1850 ein rascher Niedergang beschieden gewesen sein und nur der schwer gefasste Entschluss, sich von allen Unternehmungen zurückzuziehen, rettete den Vater vor dem Ruin und gänzlicher Verarmung. Das Handelsgericht notiert die Löschung der Firma und das Ende der Befugnis mit dem Jahr 1861. Geerbt haben die Liegenschaft im Jahre 1877 ein Herr Bernhard Spitzer und eine Frau Amalia Löwy, spätere Spitzer.

Ein paar Details aus dem Geschäftsleben erzählt ein Akt aus dem Gemeindearchiv. Er enthält Protokolle und Entscheidungen zu einem Streit um den an die Zuckerraffinerie des Herrn von Wertheimstein und die Druckfabrik des Benjamin Spitzer grenzenden Mühlbaches. Der Stellenwert des Mühlbaches für die beiden Fabriken ist ungewiss, scheint aber untergeordnet gewesen zu sein. Kraft für eine Maschine konnte daraus nur die Schokoladefabrik auf dem Gelände der einstigen Neumühle gewinnen, denn nur sie hatte das für den Betrieb eines Mühlrades notwendige Gefälle. Die Druckfabrik hatte einen „Pferdegang“ zum Betrieb von Maschinen eingerichtet. Natürlich war das Wasser auch anderweitig verwendbar und könnte für die Zuckerfabrik durchaus wertvoll gewesen sein, tatsächlich dürfte allerdings eher die Ableitung von „Unrath“ im Vordergrund gestanden sein.

Der Streit um den Mühlbach wurde in den Jahren 1849/50 ausgetragen. Heinrich Edler von Wertheimstein hatte Frau Franziska Kattner mit dem Mühlengebäude offensichtlich auch den Mühlbach zur Verfügung gestellt. In ihren Augen überstiegen allerdings die Kosten des Baches den Nutzen bei weitem und sie hatte ihn etwa 2 Jahre vor dem Streit versanden lassen.

Benjamin Spitzer wollte ihn wieder ausgraben und erregte damit den Protest des Herrn von Wertheimstein und der Besitzer der Feld- und der Faistmühle, aus zwei Gründen: Erstens wollte er ein Gefälle von 8 Schuh zum Betrieb eines Wasserrades erzielen - das beanspruchte Herr von Wertheimstein als Rechtsnachfolger der Neumühle. Zweitens wollte er das Wasser nicht im alten Mühlbach weiterführen, wo es sich mit dem aus Baumgarten über den Wienfluss kommenden vereinigt hätte, sondern in einem neuen Graben direkt zurück in den Wienfluss - das störte die abwärts gelegenen Mühlenbetreiber, die das Wasser wollten. Hier scheinen auch Neidgefühle im Spiel gewesen zu sein, denn das Versanden hatte niemanden gestört.

Den Streit verwies die Bezirkshauptmannschaft schließlich an die Zivilgerichte, über den weiteren Verlauf steht in dem Akt nichts mehr. Allerdings scheint Herr Benjamin Spitzer das begonnene Projekt fertiggestellt zu haben, denn einer der Pachtverträge zur Herleitung des Wassers über die Hackinger Hutweide datiert aus dem Jahr 1868. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Druckerei schon längst nicht mehr.

Die Gebäude der Fabriken waren in viele kleine Wohnungen geteilt zu Massenquartieren für Arbeiterfamilien geworden. Der Bericht über diese, den älteren Menschen erinnerliche Zeit der „Kümmerlhäuser“ und des „Spitzerhauses“ wir bald auf dieser Plattform erscheinen.

Insgesamt also ein recht kurzes „Gastspiel“ der ersten Fabriken in Ober St. Veit. Die beiden anderen „Industriellen Flaggschiffe“, die Wagenfabrik Rohrbacher und die Färberei Winkler & Schindler hielten sich länger und wichen den Rationalisierungs- und Standorterfordernissen erst nach hartem Kampf. Auch die kleineren, gewerblich strukturierten Betriebe verschwanden größtenteils, und das liegt nicht nur an wirtschaftlichen Faktoren sondern an der totalen Landnahme durch den Wohnbau und dessen Qualitätsbedürfnis. So paradox es auch klingen mag: Der neue Siedler, in dessen Gefolge sich Lärm und Gestank über Ober St. Veit wälzten, versteht keinen Spaß mit Lärm und Geruch aus dem Gewerbe, auch dem alt eingesessenen. Der letzte echte Ober St. Veiter Poduktionsbetrieb, den es noch gibt, kann darüber ein Lied singen.

Quellen:
Dienstbuch A: 1761 - 1846 sowie Dienstbuch B: Häuserbuch 1845 - 1880 und Satzbuch B (1696) 1783 - 1808 des Erzbistums Wien zu den Besitzungen in St. Veit.
Raffelsperger Franz, HG: Allgemeines Geographisch-Statistisches Lexikon aller Österreichischen Staaten, Band 6 aus 1853.
Statistische Uebersicht der wichtigsten Produktionszweige in Oesterreich unter der Enns, N.Ö. Handels- und Gewerbekammer Wien, 1855.
Konskriptionsbögen 1830-1850.
Akten der Gemeinde Ober St. Veit und des Merkantil- und Wechselgerichtes aus dem Wiener Stadt- und Landesarchives (exzerpiert von Dr. Gebhard Klötzl).
Spitzer Daniel: Letzte Wiener Spaziergänge, Wien 1894.

hojos
Ober St. Veit, im November 2006